Heimstrasse 52
Saniye raucht eine Zigarette nach der anderen, während sie erzählt. Im Laufe der Jahre wird Gül sich noch oft fragen, warum die Menschen gerade ihr vertrauen, warum sie all diese Geschichten zu hören bekommt, die selten erzählt werden. Warum so viele Leute ausgerechnet sie auswählen, um ihr Leid zu teilen, warum Menschen glauben, Worte, die an sie gerichtet sind, könnten eine Hilfe sein.
– Alper hat getrunken, und wenn er getrunken hatte, hat er geschlagen. Er war kein schlechter Mann, vielmehr war es so, wie sie sagen: Der Schnaps sieht in der Flasche anders aus als im Kopf. Und wenn eine Maus ihn trinkt, greift sie glatt die Katze an.
Wenn dieser gottverfluchte Alkohol nicht gewesen wäre, dann hätten wir miteinander auskommen können. Aber Schnaps ist eine Geliebte, gegen die du nicht ankommst.
Es gab immer nur Streit, grün und blau hat er mich geschlagen, wenn er betrunken war. Am nächsten Morgen tat es ihm leid, aber abends hat er sich wieder den Kopf zugesoffen. Also habe ich meine Sachen gepackt und bin zu meinem Vater. Meine Mutter war schon seit drei Jahren tot. An einer Blutvergiftung ist sie gestorben, wer hätte das gedacht, als sie hingefallen ist, dass das der Tod ist, der an die Tür klopft, es sah nur aus wie ein aufgeschrammtes Knie.
Gül muss daran denken, wie ihre Mutter gestorben ist, viel früher und an einer Krankheit, die ihr Vater überlebt hat.
– Ich bin zu meinem Vater, weil es mit Alper einfach nicht ging. Er war ein lieber Mensch, hatte ein weiches Herz und viel Platz darin, aber der Alkohol machte es eng. Nach einer Woche kam er abends zu meinem Vater und hat mich auf |44| Knien, wirklich auf Knien, angefleht zurückzukommen, er hat seine Hände auf meine Füße gelegt, und mein Vater ist einfach aus dem Raum gegangen.
Dein Sklave möchte ich sein, hat Alper gesagt, er hat geschworen, dass er mit dem Trinken aufhören wird. Ufuk, unser Sohn, war gerade mal ein halbes Jahr alt, und warum sollte ein Kind ohne Vater aufwachsen. Und meinem Vater wollte ich auch nicht zur Last fallen. Und beim ersten Mal habe ich ihm auch noch geglaubt.
Vier Wochen hat er nicht getrunken, und danach habe ich es noch mal vier Wochen ausgehalten. Am ganzen Körper war ich grün und blau, meine Rippen haben weh getan, vielleicht waren sie zwischendurch auch mal gebrochen, wenn er voll war, kannte Alper kein Erbarmen. Zwei Tage später war er bei meinem Vater, hat gebettelt, gefleht und Mitleid geheischt.
Danach hat er zwei Monate nicht mehr getrunken. Und als er beim dritten Mal zu meinem Vater kam, um mich zurückzuholen, wusste mein Vater schon, dass ich nicht hart bleiben würde, und er hat sich Alper geschnappt, sobald er über die Schwelle getreten war, und hat gesagt: Mein Sohn, so geht das nicht, du musst dich entscheiden. Das ist meine Tochter, und es steht ihr frei, hierzubleiben oder noch mal mit dir mitzugehen, aber sie hat ein Herz wie Brotteig, jedes Mal bekommst du sie herum, aber ich, ich schau mir das nicht länger an. Es zerreißt mir das Herz. Du musst auch mal etwas lernen, so geht das nicht, Saniye ist kein Spielzeug, sie ist ein Mensch wie du und ich. Also hör mir gut zu: Wenn das noch einmal, noch ein einziges Mal, geschieht, dass du hier an meine Tür klopfst und sie wiederhaben möchtest, dann werde ich dich erschießen. So wahr ich hier stehe. Also überlege es dir gut, ob du meine Tochter noch mal so weit bringen möchtest, dass sie hierher flieht. Und selbst wenn es so weit kommen sollte, dann überlege noch viel besser, ob du an diese Tür klopfen |45| möchtest, um sie wieder einzuwickeln mit deinen Tränen und Schwüren. Ich bin ein alter Mann, ich habe nichts mehr zu verlieren. Wenn du hier noch einmal aufkreuzt, um Saniye zu holen, werde ich dich erschießen.
Hast du das begriffen?, hat er ihn angeschrien, und Alper hat genickt.
Über ein Jahr bin ich bei Alper geblieben, obwohl er wieder getrunken und geschlagen hat, ein Jahr habe ich alles ertragen, damit es nicht noch schlimmer wird. Es war der letzte Versuch. Erst als er mir das zweite Mal die Nase gebrochen hat und ich die ganze Nacht Blut gekotzt habe, bin ich zu meinem Vater. Ich habe Alper beschworen, mich nicht noch mal holen zu kommen. Ich habe ihn angefleht, nicht zu kommen, um seinetwillen, nicht um meinetwillen. Aber nichts überschätzte dieser Mann mehr als seinen eigenen Willen. Noch am selben Abend ist Alper zu meinem Vater gekommen. Und der hat das Gewehr von der Wand genommen und auf
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