Heimstrasse 52
nach dem Ende der Ferien täglich den Kindern hinterherweinte, die einen Sommer lang ihre Spielkameraden gewesen waren und sie nun auf einmal jeden Morgen allein ließen, um zur Schule zu gehen. Und obwohl sie sechs Wochen nach Beginn des Schuljahres eingeschult wurde, war sie am Ende unter den Klassenbesten.
Mögen meine Kinder eine gute Schulbildung bekommen wie ihre Tanten und nicht wie ich die Grundschule im Nachhinein per Fernstudium abschließen müssen, nachdem sie schon verheiratet sind, betet Gül. Sie hatte bei den Abschlussprüfungen im fünften und letzten Jahr der Grundschule versagt und war sitzengeblieben. Doch anstatt es im nächsten Jahr noch mal zu versuchen, war sie nach den Sommerferien einfach nicht mehr in die Schule gegangen, und ihr Vater hatte sie bald darauf zur Schneiderin Esra geschickt, damit sie etwas lernte.
Heute zuckt der Postbote mit den Schultern.
– Tut mir leid, sagt er, es ist kein Brief für Sie dabei.
Gül wartet nicht erst auf die Antwortbriefe, die sie bekommen müsste, sie schreibt alle paar Tage einen und hat so fast täglich die Hoffnung, dass eine Antwort kommen könnte. Jeden |49| Tag in der Woche sieht sie der Postbote am Zaun stehen, nur wenn es stark regnet, wartet Gül am Fenster der Wohnstube, das zur Straße hinausschaut.
Worte, sagt sie sich, es sind immer nur Worte, die gegen die Sehnsucht helfen müssen. Wenn man niemanden hat, den man kosen und drücken kann, dann sucht man Zuflucht bei den Worten.
Auch der Kalender an der Wand scheint ihre Sehnsucht zu besänftigen, der Kalender, an dem sie jeden Tag ein weiteres Blatt dieser Trennung abreißen kann.
Noch fünf Monate, nur noch fünf Monate, dann werden sie in die Türkei fliegen, sie wird ihre Kinder wiedersehen und sie hören können, schmecken und spüren, sie wird endlich wieder den Duft ihrer Töchter in der Nase haben.
Über ein Jahr ist sie nun schon in Deutschland, und wenn sie sich umblickt, erscheint ihr diese Zeit lang und schwer, besonders in der kleinen Wohnung. Mit dem Umzug in die Heimstraße scheint alles etwas leichter geworden zu sein.
Diese Arbeitsstellen, bevor sie in der Wollfabrik angefangen hat, die Stunden in der Küche, die sie nie vergessen wird, der Besuch beim Arzt, das Gesicht Fuats, als er sagte: Er hat Baby gesagt, oder? Das Wort hast du doch schon mal gehört? Was gibt es denn da nicht zu verstehen?
Ihre Erleichterung, als sie das Blut sah, ihr Traum, der sie tagelang begleitet hat, die Minuten unter den Hühnern.
Es kommt ihr vor, als hätte sie viel gelebt und wäre gealtert, und sie wünscht sich, dass ihre Töchter noch genauso sind, wie sie waren, als sie sie verlassen hat, auch wenn Ceyda nun schon schreiben kann, auch wenn ihr das Bild, wie Ceren sich das Gesicht zerkratzt, immer noch so schwer auf dem Herzen liegt, als wäre es ein Amboss in der Schmiede ihres Vaters.
|50| – Komm, bleib doch noch fünf Minuten im Bett, sagt meiner immer, beschwert sich Ela, eine Arbeitskollegin von Gül. Der wacht auf nach seiner Nachtschicht, und wenn ich schon längst aufstehen und zur Arbeit muss, bettelt er, fasst mich noch mal hier und da an, damit ich bei ihm bleibe.
– Meiner ist genauso, sagt Huri, immer wenn ich zur Arbeit muss, heischt er noch nach Minuten.
– Ach, die Männer, die sind doch alle gleich, sagt Işık, glaubt ihr etwa, meiner wäre anders? Wenn es nach dem ginge, würde ich jeden Tag zu spät kommen.
Gül beißt in das Brot, an dessen Geschmack auch sie sich immer noch nicht gewöhnt hat, und schweigt.
Es gefällt ihr, hier in der Fabrik zu arbeiten. Sie ist nicht zu groß, die Arbeit ist nicht zu schwer, und Gül braucht zu Fuß kaum zehn Minuten bis hierher, der Weg ist einfach, und es arbeiten etliche junge Türkinnen hier in der Kämmerei, auch Griechinnen, Spanierinnen und Jugoslawinnen. Doch das Gespräch gerade wühlt etwas in Gül auf, das ihr überhaupt nicht gefällt. Sie tut so, als würde sie jeden Bissen ihres mitgebrachten Brotes genießen.
Sie hat Fuat geheiratet, weil sie es wollte. Es hatten noch andere Männer bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten, und sie hatte Nein gesagt. Sie hat Fuat geheiratet, weil sie es wollte. Sie wollte raus aus dem Haus ihres Vaters, damit es den Schwestern besserginge, damit da ein Magen weniger zu füllen wäre. Fuat ist der jüngere Bruder ihrer Stiefmutter, sie kannte ihn und sie hat geglaubt, es würde ihr leichter fallen, bei jemandem zu sein, der nicht so fremd ist.
Fuat sah gut aus, er
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