Heimstrasse 52
war einer der attraktivsten Männer in ihrer Stadt, das sagten auch andere Frauen, er hatte damals noch volles Haar, in dem die Brillantine glänzte, und er legte Wert auf seinen Anzug, er hatte einen Beruf gelernt und schien eine Familie ernähren zu können.
Gül hat nicht gewusst, wie viel Fuat trank und spielte, aber |51| viele Männer haben diese Laster, zumal die jüngeren, Laster, die man gemeinhin schlechte Angewohnheiten nennt, und Gül hat nie geglaubt, dass es ihr anders erginge als anderen Frauen.
Aber ihr Mann bittet sie nie, noch einige Minuten im Bett zu bleiben. Im Gegenteil. Er sagt immer: Auf, auf, du musst zur Arbeit. Das hier ist Deutschland, da kann man nicht einfach zu spät kommen, hier hat alles eine Ordnung und eine Zeit. Arbeit ist Arbeit, und Schnaps ist Schnaps. Los, los, scheucht er sie.
Den Rest des Tages redet Gül kaum mit ihren neuen Freundinnen, sie macht ihre Arbeit und gibt sich den Anschein, dass ihr das mehr Konzentration abverlangt, als es der Fall ist.
Am nächsten Tag hat sie die Sache schon fast vergessen, als Fuat sie wieder drängelt: Auf, auf.
Dabei kommt sie nie zu spät. Als Kind hat sie öfter getrödelt und die Zeit vergessen, doch das ist vorbei, selbst wenn Fuat nie etwas sagte, sie würde immer pünktlich sein. Es kränkt sie, dass Fuat das offensichtlich nicht weiß. Sie schmiert sich zwei Brote mehr als sonst.
– Heute wieder dasselbe, sagt Huri später in der Pause, dieser Mann packt mich am Rockzipfel und will mich noch mal zurück ins Bett ziehen.
Vierzehn Tage lang hört Gül sich diese Geschichten an. Sie kann sich nicht mal über die beiden Hühner freuen, die Fuat mit nach Hause bringt. Ihre Lichtblicke sind die Momente am Zaun, wenn der Postbote ihr schon von weitem zulächelt und ein Nicken andeutet. Dann ist alles andere egal, dann geht es ihr so wie Fuat, wenn er betrunken ist, doch in diesen zwei Wochen schaut sie öfter als sonst ihren Mann an und versucht zu begreifen, ob er vielleicht anders ist als die Männer anderer Frauen. Er zögert nie, sie aufzuwecken, wenn er ein Verlangen hat, aber er hat sie noch nie gebeten, im Bett zu bleiben.
Nach vierzehn Tagen sagt Gül zu ihren Freundinnen:
|52| – Ja, aber wenn sie wieder und wieder bitten, dann bleibt doch einfach mal da. Tut ihnen den Gefallen. Was soll schon passieren, wenn ihr einmal zu spät kommt? Seht euch Rocío an, der passiert ja auch nichts.
Rocío ist dürr, quirlig und redet viel. Wenn ihr Deutsch nicht ausreicht, redet sie auf Spanisch weiter. Sie scheint zu glauben, wenn sie nur eindringlich und schnell genug spreche und dabei ausreichend gestikuliere, werde man sie schon verstehen.
Auch Rocío wohnt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Heimstraße. Gül hat Rocío noch nie gehen sehen, diese Frau scheint immer in Eile, bewegt sich zügig, raucht hastig, kommt aber regelmäßig erst nach Arbeitsbeginn. Nur ihr Mund ist schneller als ihre Füße.
– Es wäre doch nur nett, oder?, sagt Gül. Probiert es doch mal.
Dabei hat Gül keine Hintergedanken, sie ist einfach neugierig, sie möchte wissen, was es ist, das Fuat von den anderen unterscheidet.
Nicht im Geringsten hat sie damit gerechnet, dass Huri und Ela am nächsten Tag nicht nur pünktlich, sondern offenbar verdrossen zur Arbeit kommen. Sie sehen aus, wie Gül die letzten Tage hoffentlich nicht ausgesehen hat, obwohl sie sich so fühlte.
– Was ist geschehen?, will Gül ehrlich überrascht wissen.
– Ach, sagt Ela, ich bin ins Bett, und nach zwei Minuten sagt er schon: Aber nicht, dass du zu spät kommst.
– Meiner genauso, hat mir einen Klaps auf den Hintern gegeben und gesagt: Die Arbeit ruft, sagt Huri.
– Meiner hat heute gar nicht gefragt, sagt Işık, aber ich ahne schon, was passieren wird.
Gül tut es leid, dass sie ihre Freundinnen in so eine Situation gebracht hat.
– Verzeiht, sagt sie, ich konnte nicht ahnen …
|53| – Schon gut, sagt Huri, es ist ja nicht deine Schuld.
Gleich, denkt Gül, sie sind doch alle gleich. Der einzige Unterschied ist, dass Fuat nicht schmeicheln kann. Wenigstens verstellt er sich nicht.
Und obwohl sie nun auf einmal gut gelaunt ist, fühlt sie sich gleichzeitig schuldig und bereut es, den dreien so etwas vorgeschlagen zu haben.
Huri, Işık, Ela und einige andere Frauen aus der Siedlung sitzen oft an den Wochenenden in einer der großen Küchen beisammen. Man trifft sich mal hier und mal da, aber nie zu häufig hintereinander bei derselben, damit man
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