Heimstrasse 52
ihr nicht zur Last fällt. Wenn die Männer dabei sind, sitzen sie in der Stube, die kleiner ist als die Küche, rauchen, spielen Karten, manchmal läuft ein Radio, ein Tonband oder gar ein Kassettenrecorder, es gibt Tee und spätestens nach Einbruch der Dunkelheit auch Alkohol.
Wenn es das Wetter zulässt, sitzt man in einem der Gärten, und Gül fühlt sich dann an das Sommerhaus ihres Vaters erinnert, selbst wenn dort der Garten fünfzigmal so groß war. Man saß abends auf den Treppenstufen vor den Häusern, strickte oder häkelte, ratschte und klönte, knabberte Sonnenblumenkerne und lauschte dem Radio von Güls Vater, der lange Zeit als Einziger in der Straße so ein Gerät besaß und einen Lautsprecher auf das Dach seines Hauses gestellt hatte, weil er den ständigen Besuch leid war.
In der Heimstraße sind alle beisammen wie damals in der Türkei. Hier kann man vor die Tür gehen und sich besuchen, es ist nicht so wie bei Suzan und Murat, in deren unmittelbarer Nachbarschaft kaum Türken wohnten. So hatte Suzan es Gül geschrieben. Murat hatte bereits im Zug auf dem Weg nach Deutschland einige Freundschaften geschlossen, Freundschaften, die sogar fortdauerten, als sie längst in Neapel wohnten.
|54| Solange sie in Deutschland waren, schrieben Suzan und Murat ihren Freunden, die in nahegelegenen Orten lebten, am Mittwoch eine Postkarte, dass sie Samstag kämen. Und wenn bis Samstag keine Absage zurückkam, dann lohnte es sich, den Weg auf sich zu nehmen.
Bei den Zusammenkünften in der Heimstraße begreift Gül erst wirklich, was Fuat meinte, als er sagte, das hier sei ihre Militärzeit. Sie trifft nicht nur Frauen aus den verschiedenen Regionen der Türkei, hört nicht nur von ihr fremden Bräuchen, die verblüffen oder gar erschrecken, wird nicht nur geübt darin, die verschiedenen Akzente auseinanderzuhalten, sondern sie lernt erst hier Neid und Missgunst richtig kennen, Heimtücke und Verschlagenheit.
Anfangs raten die Frauen, wo sie herkommen, Havva, eine Istanbulerin, sagt zu Mevlüde, einer Frau aus Kayseri:
– Du sprichst so breit und kräftig und auch ein wenig derb, du kommst bestimmt aus Anatolien, oder nicht?
– Ja, sagt Mevlüde, und Gül, weißt du, woher sie kommt?
– Die formuliert immer ganze Sätze und macht keine grammatikalischen Fehler, sie hört sich zwar nicht so an, aber ich würde sagen, sie kommt am ehesten wie ich aus Istanbul.
– Was Istanbul?, braust Mevlüde auf. Zwei Stunden von uns entfernt wohnt die, wie kommst du denn jetzt auf Istanbul, das ist ja am Arsch der Welt, du hast ja echt keine Ahnung, kommst hierher aus deinem feinen Istanbul, aber sobald du den Mund aufmachst, kommt da nur Schwachsinn raus, und dieser Schwachsinn ist ein richtiger Fluss und kein kleiner Bach.
Alle sind erstaunt über diese Reaktion, und Gül versucht, Mevlüde zu beschwichtigen:
– Mevlüde, mein Herz, es ist doch gar nichts passiert, worüber man sich aufregen müsste. Havva hat selber gesagt, ich höre mich nicht so an.
|55| – Ach, ihr mit eurer komischen Raterei, sagt Mevlüde nun, ist doch egal, wo jemand herkommt, oder?
– Klar, sagt Gül, wir sind alles Türken, wir sprechen dieselbe Sprache. Aber noch wichtiger, wir sind alles Menschen. Es gibt gar keinen Grund, so harsch zueinander zu sein. Wir sitzen hier alle im selben Boot.
Doch auch wenn sie alle im selben Boot sitzen und alle eines Tages im selben Meer untergehen werden, was für die eine wahr ist, ist für die andere bloß eine Geschichte mehr. Wo die einen jeden Tag Fisch zum Frühstück gegessen haben, haben andere ihn höchstens in Schulbüchern gesehen.
Als Gül Mevlüde besser kennenlernt, glaubt sie zunächst zu verstehen, warum die junge Frau aus Kayseri so schnell schäumt. Ihr Mann verliert den Verstand. Ob das an Deutschland liegt, an Mevlüde, an seinen Genen, an seiner Geschichte, wer kann das schon so genau sagen.
Du streust mir Chili in die Unterhosen, beschuldigt Serter seine Frau, du hast meine Mutter verhext, nun schreibt sie mir nicht mehr, du hast mich mit einem Fluch belegt, dass ich dauernd Verstopfung habe, jeden Tag bezichtigt er sie einer neuen Sache.
– Seine Mutter ist Analphabetin, sagt Mevlüde, sie hat in ihrem Leben nichts geschrieben, noch nicht mal ihren Namen, geschweige denn einen Brief. Dieser Mann wird von Tag zu Tag umnachteter. Wir müssen uns trennen, so geht das nicht.
Seine Arbeit erledigt Serter ohne Probleme, aber er hat Wahnvorstellungen und ist überzeugt davon,
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