Heimstrasse 52
zu werden.
Hinter Havvas Rücken reden die Frauen nun darüber, wie viel Geld sie den beiden gegeben haben, dass es für mehr als eine Flugkarte gereicht hat und dass diese hochnäsige, unverschämte Person sich nun Schminke kaufen und noch kürzere Röcke tragen kann, um noch mehr mit ihrer Schönheit anzugeben.
Niemand hat sie gezwungen, Geld zu geben, denkt Gül ärgerlich, und Havva hat sich auch vorher schon geschminkt, was soll sie tun, ihre Lippenstifte wegwerfen, weil sie kein Geld für eine Flugkarte hatten? Was sind das hier für scheinheilige Leute?
Doch wem kann sie das sagen, mit wem kann sie darüber sprechen? Ein Mensch muss sich hervortun durch die Dinge, die er tut, nicht durch die Dinge, die er sagt.
Es ist ein riesiger Karton, und Fuat und seine Kollegen keuchen, als sie ihn ins Wohnzimmer tragen. Fuat strahlt über das ganze Gesicht. Gül sieht ihn an und freut sich, dass er glücklich ist, kann aber nicht erraten, was wohl in diesem Karton sein mag.
– Ah, sagt Fuat, diese Annehmlichkeiten, dieser Luxus. Bei |79| uns haben es nur die ganz Reichen, aber hier in der Heimstraße werden es bald alle haben, du wirst sehen.
Er scheint ein Stück zu wachsen während der nächsten Worte.
– Wir gehören nun zu den Ersten. Gute deutsche Wertarbeit von Nordmende.
Gül hat die Fabrik in Bremen gesehen, eines dieser riesigen Gebäude, vor denen sie Angst hat, weil sie weiß, dass sie kaum herausfindet, wenn sie erst mal drinnen ist.
– Schwer wie ein Esel, sagt Fuat, aber so ein Fernseher bringt dich weiter als ein Lasttier, viel weiter, um die ganze Welt bringt er dich, du musst nicht mal aufstehen, du kannst einfach in deinem Sessel bleiben.
Was er in der nächsten Zeit auch zur Genüge tut. Saß man früher häufiger in der großen Küche beisammen, hält man sich nun fast nur noch im Wohnzimmer auf, wenn Sendezeit ist. Fuat, Gül und auch Ceren und Ceyda sitzen vor dem Bildschirm und lernen in den kommenden Wochen mehr Deutsch als in den Monaten zuvor.
Sie schauen alles, ob Daliah Lavi oder Zum Blauen Bock, der sie befremdet und langweilt zugleich, Raumschiff Enterprise oder Ilja Richter, die Sendung mit der Maus oder die Sportschau, den Tatort oder Spiel ohne Grenzen und für Fuat besonders wichtig: die Ziehung der Lottozahlen.
Waren sie bisher ein wenig eingeschlossen in ihrer Welt, in den kleinen Ausschnitten, die sie von Deutschland kannten, öffnet sich ihnen mit dem großen schweren Gerät ein Fenster zu einer Sprache und Kultur, die sie sich einfach ins Wohnzimmer holen können, und sei es auch nur in Schwarzweiß.
Die Nachrichtensprecher berichten ihnen von den Geschehnissen im Lande, und wenn sie auch nicht immer alles verstehen, bedeutet im Wohnzimmer zu sitzen und fernzusehen einen größeren Schritt auf Deutschland zu, als rauszugehen und am öffentlichen Alltag teilzunehmen.
|80| Mag es Fuat in jenen Jahren noch für einen Luxus halten, seine Whisky-Cola im Sessel vor dem Nordmendegerät zu trinken und sich vorzukommen wie jemand, der es geschafft hat, über zwanzig Jahre später wird er es für die größte Strafe halten, wenn seine Satellitenschüssel kaputtgeht und er auf einmal wieder deutsche Programme schauen muss, die er mittlerweile kaum mehr versteht. Doch das kann natürlich niemand ahnen, in Zeiten, in denen die Antenne noch mal gerichtet wird, um das Bild klarer zu kriegen.
– Ich mag keine dicke Frauen, ich mag es am liebsten, wenn eine Frau schlank ist wie diese Ansagerinnen im Fernsehen. Moderne Frauen, ein wenig sportlich, schön rank wie deine Schwester Melike, obwohl deren Teint mir zu dunkel wäre.
Sonst verliert Fuat nie ein gutes Wort über Melike, und nur wegen der Figur hätte er seine Schwägerin auch nicht unterstützt, wie Gül es getan hat, ohne dass Fuat etwas geahnt hätte.
Gül ist gekränkt, doch sie fängt gar nicht erst damit an, dass Melike früher in der Schulmannschaft Volleyball gespielt hat, dass sie immer am schnellsten laufen und am weitesten springen konnte und dass es kein Wunder ist, wenn sie nicht so zunimmt bei so viel Bewegung. Dass sie aber oft ungerecht ist und immer auf ihren Vorteil bedacht, was eine gute Figur denn zu bedeuten hat, wenn das Herz dahinter hart ist. Doch so redet Gül nicht über ihre Familie, sie schweigt lieber.
Nicht nur, dass Fuat nicht schmeicheln kann, denkt sie, er findet mich sowieso nicht attraktiv. Weswegen hat er eigentlich um meine Hand angehalten? Nur weil ich damals weniger wog?
Sie
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