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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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so vertieft, das hätte nicht passieren dürfen. Verzeih, es wird nicht wieder vorkommen.
    Als würde ihn das nur noch mehr anstacheln, wird Fuat noch lauter:
    – Ich war vertieft. Wie alt bist du denn? Kaum fassbar. Vertieft in Kinderspiele. Wie alt bist du? Kannst du überhaupt schon die Uhr lesen?
    – Du hast recht, murmelt Gül und sieht zu Boden.
    – Was soll ich denn jetzt dem Vorarbeiter sagen, warum ich zu spät komme? Meine bescheuerte Frau hat mit meiner Tochter gespielt und darüber die Zeit vergessen? Der glaubt glatt, ich hätte nicht mehr alle Schrauben am Moped. In einem Haus wie diesem verliert man den Verstand, da kann doch kein Mensch normal bleiben. Du wolltest die Kinder hier haben, und nun, wo sie hier sind, vergisst du einfach deinen Mann. Und was kommt als Nächstes? Willst du mich rausschmeißen oder vergiften oder was?
    Türknallend geht er aus der Küche, nimmt seine Jacke und macht sich auf den Weg zur Arbeit.
    Gül erinnert sich, wie er sie einmal fast geschlagen hätte, |74| doch das ist Jahre her. Und daran, wie ihr Vater sie mal gefragt hat: Habe ich dich spielen geschickt, sag selbst, habe ich dich spielen geschickt? Jetzt habe ich das Wasser selber geholt.
    Das ist noch viel länger her. Damals hatte sie über dem Spiel ihren Platz in der Schlange an dem öffentlichen Wasserhahn vergessen.
    Seitdem scheine ich nicht viel dazugelernt zu haben, denkt sie. Ceren, die sich nun in Sicherheit vor ihrem Vater weiß, fängt an zu weinen.
    Als Ceyda vom Spielen heimkommt, sagt Gül:
    – Schau mal, da liegt etwas für dich auf dem Tisch.
    Ceyda hebt den Karton hoch, den Gül in Geschenkpapier eingewickelt hat.
    – Das hier?
    – Ja, das.
    – Was ist das?
    – Mach es auf, dann siehst du es.
    – Was ist da drin?, fragt Ceyda gelangweilt.
    – Mein Lamm, da ist alles drin, was du möchtest, sagt Gül nun, wenn dir das, was heute drin ist, nicht gefällt, dann wird morgen etwas anderes drin sein.
    Sie hat kein Geld, um noch mehr Spielzeug zu kaufen, und hofft, dass die Puppe ihrer Tochter gefallen wird.
    Ceyda reißt das Geschenkpapier etwas widerwillig ab, doch Gül kann erkennen, wie sie versucht, ihre Freude zu unterdrücken, als sie die Puppe sieht. Dieser kleine Moment, in dem sich Entzücken im Gesicht ihrer Tochter widerspiegelt, entgeht ihr nicht.
    – Wenn sie dir nicht gefällt, finden wir dir eine andere, sagt Gül, und genau wie ihre Tochter verbirgt sie ihre Freude in der Angst, Ceyda könnte diese mit Triumph verwechseln.
     
    Jetzt, wo sie ihre Töchter bei sich hat, bahnt sich Güls Sehnsucht eine neue Richtung. Fast alle Nachbarn haben in der |75| Wohnstube gerahmte Schwarzweißfotografien, Familienbilder, auf denen alle vereint sind und ernst in die Kamera blicken, die Kinder, der Größe nach geordnet – die Jungen mit kurzen Haaren und Steinschleudern, die frech aus der Hosentasche lugen, die Mädchen in ihrem besten Kleid und mit akkurat geflochtenen Zöpfen –, die Männer in einem Anzug mit weiter Hose, die Mütze geradegerückt wie beim Militär, die Frauen mit faltenlosem Kopftuch, und die Beine, die man unter dem langen Rock nicht sehen kann, sind wahrscheinlich frisch enthaart. Wenn Gül doch auch ein Foto hätte, eins, auf dem alle Geschwister vereint sind.
    Ganz links Melike, die zwar jünger ist als Gül, aber bereits mit zwölf Jahren größer war als ihre zwei Jahre ältere Schwester. Melike mit dem dunklen Teint ihrer Mutter, was man auf dem Foto nicht würde erkennen können, Melike, die als Kind nie auf ihren Vater oder auf Gül gehört hat, deren Wille immer stärker schien als die Widerstände, Melike, die als Einzige die Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln hat und so wirkt, als würde sie gleich davonrennen, wenn der Fotograf endlich fertig ist. Daneben Gül mit einer Schleife im Haar, wie sie es auf dem Foto ihres Abschlusszeugnisses haben wollte, zwischen den Schultern der beiden ist eine Handbreit Platz. Rechts neben Gül Sibel, die als Kind oft krank war, aber ihre Ausbildung vor ihrer Volljährigkeit abgeschlossen hatte, so dass sie noch nicht als Referendarin hätte arbeiten dürfen, weswegen der Schmied ihr Geburtsdatum bei Gericht mit einem falschen Zeugen um einige Monate vorverlegt hat. Neben der dünnen Sibel steht Nalan, das erste Kind, das der Schmied mit seiner zweiten Frau Arzu gezeugt hat, ein weiteres Mädchen, aber was für eines. Nalan, die Hübsche, schon früh begannen die Männer ihr hinterherzuschielen, und als ihre

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