Heimstrasse 52
Brüste wuchsen, schafften es nur wenige, den Blick von ihrem üppigen Dekolleté abzuwenden, woraufhin Nalan sich angewöhnte, die Schultern vorzuwölben |76| und den Rücken rund zu machen. Und neben Nalan Emin, der die hellen Haare seines Vaters geerbt hat und dessen Augen zwischen Blau und Grün changieren. Der etwas verwöhnte Letztgeborene, der acht Jahre für die Grundschule gebraucht hat, die regulär nur fünf dauert, der aber keineswegs auf den Kopf gefallen ist und es später als Einziger in der Familie zu Reichtum bringen wird.
Ein Foto von den fünfen, der Größe nach geordnet, im Garten des Sommerhauses vor dem großen Maulbeerbaum, wenn Gül nur so ein Foto hätte, eines wie es die anderen auch besitzen, ein Foto wie ein weit offenes Tor zu den Erinnerungen, die einen glauben machen, man hätte in einem Paradies gelebt.
Waren sie je alle fünf gleichzeitig am Maulbeerbaum? Hat Gül sich nicht immer gekümmert um Melike und Sibel, weil sie ihnen die verstorbene Mutter ersetzen wollte. Hat sie sich später etwa weniger bemüht um Nalan und Emin. War sie je voll Ruhe und Frieden, weil sie das Gefühl hatte, alles getan zu haben, was sie konnte. Kam sie sich nicht auch stets überfordert vor, und sei es nur von ihren eigenen Ansprüchen.
Doch mit wem kann man sich so verbunden fühlen wie mit den eigenen Geschwistern? Mit wem sonst hat man so eng zusammengelebt, dass die Herzen gar nicht anders konnten, als sich zu berühren?
Wenn Gül nur ein Foto hätte, wie es nie gemacht worden ist, ein Foto, das wenigstens die Sehnsucht der Augen stillte.
Jahre später wird ein Foto ihrer Mutter aus einer Truhe auftauchen, und Gül, Melike, deren Kinder und Sibel werden je einen Abzug machen lassen und das Bild dieser Frau, an die sich selbst Melike kaum mehr erinnern kann, wird in sieben Wohnungen hängen, weil sich ihr alle durch die Worte Güls nahe fühlen.
|77| Serter ist mittlerweile ausgezogen, und Mevlüde wohnt allein in ihrem großen Haus in der Heimstraße. Sie grüßt nicht mal mehr, sondern schaut weg, wenn sie dem ihr immer noch angetrauten Mann auf der Arbeit oder der Straße begegnet.
Serters Verfolgungswahn richtet sich jetzt nicht mehr nur gegen seine Frau. Er spricht zwar weiterhin davon, dass sie ihn nach wie vor vergiften möchte, dass sie eine alte Hexe ist, dass schon ihre Mutter dafür bekannt war, Unheil über ganze Sippen zu bringen, indem sie sie verfluchte, doch er glaubt auch, dass seine Vermieterin, eine ältere deutsche Frau, die ihm ein Fremdenzimmer gegeben hat, nachts zu ihm kommt und ihm die Kraft aus den Lenden stiehlt.
– Morgens wache ich auf und fühle mich ganz schwach, klagt er, ich kann kaum aufstehen und zur Arbeit gehen, meine Knie können meine Beine nur knapp halten, fast falle ich auf dem Weg zum Bad.
Seine türkischen Kollegen hören ihm gerne zu und lachen hinter seinem Rücken. Wenn ihnen nach Unterhaltung ist, suchen sie Serters Nähe und lassen ihn reden.
Auch Havva, die Istanbulerin, ist zwei Wochen lang allein in ihrem Haus, weil ihr Mann überraschend in die Türkei musste. Obwohl die beiden Frauen kaum fünfzig Meter voneinander entfernt wohnen und nun viel Zeit haben, über ihre abwesenden Männer zu reden, besuchen sie sich kein einziges Mal. Dabei hat auch Mevlüde dazu beigetragen, dass Havvas Mann Yunus in die Türkei fliegen konnte.
Er hatte ein Telegramm bekommen, seine Mutter lag im Sterben, er solle kommen, so schnell wie möglich, wenn er sie noch einmal lebend sehen wolle. Yunus und Havva hatten nicht genug Geld für eine Flugkarte, ihre Ersparnisse waren geschmolzen, weil die Behandlung der Mutter so teuer war. Unter den Türken in der Straße wurde gesammelt. Als alle wussten, worum es ging, war es selbstverständlich, etwas zu geben, einen Betrag, den man nicht als geliehen betrachtete, |78| sondern als geschenkt. Innerhalb von sechs Stunden kam genug Geld für einen Flug zusammen.
Auch Gül hat etwas gegeben. Mein Mann hat mich zu einem Rechner gemacht, hatte sie gedacht, weil er so geizig im Haus ist, muss ich in meinem Kopf Zahlen hin- und herschieben wie er. Doch nachdem sie ihren kleinen Teil beigesteuert hat, erfährt sie, dass Fuat, ohne zu zögern, 100 Mark gegeben hat.
Sobald Yunus weg war, hat das Gerede in der Straße angefangen. Viele Bräuche und Sitten sind unterschiedlich, dieses Gerede aber, dieser Klatsch und Tratsch scheint in der ganzen Türkei verbreitet zu sein, denkt Gül. Diese Angst, zum Gespött der Leute
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