Heimstrasse 52
Stimme ist jetzt schwach, und ihr ist schwindelig, sie hat das Gefühl, sie könnte aus dem Sitz fallen.
– Ich habe mich um alles gekümmert, sagt Fuat, kein Problem. Sie wird bei Havvas Familie übernachten. Die wollten ja dieses Jahr später als wir zurückfahren. Wofür hat man denn sonst Nachbarn?
– Wer wird sie hinbringen?
|86| – Ein Polizist. Ein Diener des Staates, ein verlässlicher Mann, der ein Einsehen mit unserer Situation hatte. Nicht wie dieser Angestellte der Fluggesellschaft.
– Woher hast du die Adresse?
Gül ist selber überrascht, wie praktisch sie noch denken kann.
– Sie wohnen in Bakırköy, direkt in der Nähe des Flughafens, als hätte Yunus das nicht oft genug erzählt.
Zu der glühenden Decke und der Panik gesellt sich der dunkle Schatten einer Ahnung.
– Wenn diesem Kind etwas zustößt, dann werde ich dich nicht leben lassen, sagt Gül. Und sie meint es auch so.
Die nächsten zehn Stunden sprechen die beiden kein Wort miteinander.
Mach meinen Mann nicht zum Mörder, soll Güls leibliche Mutter einem Mann gesagt haben, der sie entführen wollte.
Vielleicht habe ich das von ihr, denkt Gül. Da ist sie schon zwanzig Jahre tot, und genau wie sie drohe ich mit Mord. Aber es ist wahr, ich würde diesen Mann eigenhändig umbringen.
Der Gedanke ist ihr Trost.
Währenddessen fährt Ceyda mit dem überaus freundlichen Polizisten nach Bakırköy. Der hat sich die Beschreibung gut eingeprägt, doch das Haus der Familie aus Deutschland ist einfach nicht zu finden.
– Wie sah es denn da aus, bei euren Freunden?, möchte der Polizist wissen, nachdem er schon einige Passanten gefragt hat. Ceyda zieht die Schultern hoch.
– Du musst mir schon ein wenig helfen.
– Ich weiß es nicht, sagt sie, ich war noch nie dort. Ich war nur in ihrem Haus in der Heimstraße, in Deutschland.
Der Polizist wendet den Kopf ab, sieht aus dem Autofenster, und dann schaut er wieder zu Ceyda.
|87| – Mach dir keine Sorgen, sagt er.
Doch nachdem er einen der Vorsteher des Viertels gefragt und Ceyda vor einigen Kaffeehäusern im Auto hat warten lassen, weiß auch er nicht mehr weiter.
– Bakırköy ist groß, sagt er, da können wir nun suchen, bis wir schwarz werden. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich nehme dich mit zu mir nach Hause, wir essen dort gemeinsam zu Abend, meine Frau macht dir ein Bett, und morgen früh bringe ich dich zum Bus, und du kannst zurück in deine Heimatstadt fahren. Sollen wir das so machen, Kleines?
Ceyda nickt zaghaft. Was soll sie auch tun?
Ihre Mutter hat ihr erzählt, wie sie sich mal als kleines Kind verlaufen hatte. Ein fremder Mann hatte sie nach Hause gebracht, und die Großmutter hatte Gül erst geohrfeigt, als der fremde Mann fort war.
Könnte ich auch so eine Ohrfeige bekommen von meiner Mutter, denkt Ceyda, könnte ich nur eine Ohrfeige bekommen am Ende oder auch zwei oder zehn. Nur von meiner Mutter sollten sie sein. Alles andere wäre egal.
Als sie aus dem Auto aussteigt, fühlen sich ihre Knie an, als würden sie jeden Moment nachgeben, als wären keine Knochen und Gelenke da, sondern ein junger grüner Zweig, der ihr Gewicht nicht tragen kann. Doch Ceyda möchte sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Tapfer setzt sie einen Fuß vor den anderen.
Nie mit Fremden mitgehen. Das hat ihre Mutter ihr beigebracht, deshalb hat sie die Geschichte mit der Ohrfeige erzählt, nie mit Fremden, aber was soll sie tun, allein in dieser Stadt.
Der Polizist hat tatsächlich eine Frau und zwei kleine Kinder, kleiner als Ceyda, und auch seine Mutter wohnt mit der jungen Familie in der Wohnung, die nur eine große Küche und zwei winzige Zimmer hat.
Ceyda ist etwas erleichtert, doch sie spricht kaum, isst |88| kaum, und als sie mit den anderen Kindern in einem der Zimmer liegt, schläft sie nicht. Sie wartet. Sie wartet, ob der fremde Mann kommen wird, um ihr etwas anzutun. Sie wartet, dass das Zittern aufhört. Sie wartet und traut sich nicht mal, leise zu weinen.
Am nächsten Morgen frühstückt sie wenig, obwohl ihr die Frau des Polizisten freundlich zuredet und ihr immer wieder mit ihren warmen weichen Händen über das Haar streicht und versucht, ihr die Angst zu nehmen. Sie macht Ceyda noch einige Brote, packt ihr Obst und etwas zu trinken ein, dann bringt der Polizist sie zum Busbahnhof, kauft ihre eine Fahrkarte und setzt sie in den Bus. Nie wird Ceyda dieses Bild vergessen, wie er am Bus steht und ihr ein letztes Mal zuwinkt, ein Lächeln auf den Lippen,
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