Heimstrasse 52
nicht sicher ist, ob ihre Muter sie nicht jeden Augenblick wieder zurückschicken könnte.
Nach wenigen Wochen findet Ceyda Freundinnen in der Nachbarschaft, die mehr Deutsch können als sie und ihr helfen. Bald kann sie auch
Frau Schafenstein
sagen, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Lehrerin möchte. Doch bis sie begreift, was Heimstraße eigentlich bedeutet, dass es etwas ganz anderes ist als Ulmengarten oder Pappelstraße, wird sie schon im fünften Schuljahr sein.
Etwas fehlt immer. Auch wenn Gül jetzt mit ihren Töchtern vereint ist, wie sie es sich ersehnt hat, auch wenn es den Postboten freut, dass es diese Frau anscheinend nicht mehr so sehr schmerzt, keinen Brief zu bekommen, auch wenn Gül eine Arbeit hat, auch wenn die Häuser in der Straße der Wollfabrik gehören und die Miete deswegen derart niedrig ist, dass sie viel sparen können, auch wenn Güls Vater manchmal zu den Gesucheschreibern vor dem Amt geht, um ihnen lange Briefe an seine Tochter zu diktieren, auch wenn die getippten Worte ihres Vaters Güls Herz erfreuen, etwas fehlt immer.
Es fehlen achtzehn Monate mit Ceyda und Ceren, und Gül versucht diese Lücke zu schließen, obwohl sie ahnt, dass das nicht möglich ist. So ist das Leben, wird sie später sagen. Du wirst Wasser holen geschickt, aber alles, was sie dir geben, ist ein Korb. Es gibt keinen Eimer, den man füllen könnte.
Nicht nur Zeit und Aufmerksamkeit möchte Gül ihren Töchtern geben, sie will etwas Greifbares, und sei es nur ein weiteres Gefäß, das kein Eimer ist. So steht sie vor den Regalen im Kaufhaus und weiß nicht, was das alles für Spiele sind in diesen bunten Verpackungen. Als Kind hat sie mit Steinen gespielt und auch später noch in der ersten Zeit in Deutschland |72| mit Rafa, den sie nun schon lange nicht mehr gesehen hat. Sie hat mit Lehm gespielt, es gab Himmel und Hölle, sie sind Seil gesprungen, doch all das können Ceyda und Ceren auch.
Das wertvollste Spielzeug, das Gül und ihre Schwestern hatten, war ein Plastikball, den ihr Vater aus Istanbul mitgebracht hatte und den ihre Stiefmutter in einer Truhe unter Verschluss hielt und nur stundenweise herausgab.
Deswegen sind wir doch hier, denkt Gül vor dem Spielzeug, damit wir mehr kaufen können, damit wir unseren Teil an dieser Welt hier haben. Es gibt Puppen und Autos, Puzzles und Plüschtiere, kleine Plastikfiguren in Kartons und einen Kaufladen mit kleinen Schächtelchen, die allerdings leer sind.
Gül schaut auf die Preise, auf die Kartons, das Geld in ihrer Tasche, und schließlich nimmt sie eine Pappschachtel, auf der quadratische Karten mit verschiedenen Motiven abgebildet sind, die ihr gefallen, und eine Puppe. Melike wird diesen Monat etwas weniger Geld bekommen.
Zu Hause setzt sie sich mit Ceren in der Küche auf den Boden und packt das Spiel aus. Auf den Karten sind Bilder von Apfelsinen und Zitronen, Äpfeln und Kastanien, Federn und Eiern, genau das Richtige für ein Mädchen wie Ceren, denkt Gül, doch sie weiß nicht, warum alle Bilder doppelt sind. Während sie nun Ceren aufsagen lässt, was zu erkennen ist, versucht sie, die deutsche Anleitung zu lesen. Es gibt eine Anleitung auf Spanisch, die hätte Rafa lesen können, eine auf Italienisch, die hätte Suzan lesen können, aber keine auf Türkisch.
Das Deutsch ist ihr zu kompliziert, und Gül denkt, es ist doch für Kinder, können sie es nicht so schreiben, dass Kinder es verstehen. Doch wahrscheinlich liegt es an ihr, sie kann immer noch nicht genug Deutsch, um so ein einfaches Spiel zu begreifen. Oder es wurde in der Fabrik nicht richtig kontrolliert, deshalb sind alle Karten doppelt.
Gül beginnt einfach, die Bilder aufzuteilen, einen Apfel für |73| Ceren, einen Apfel für Mama, eine Muschel für Ceren, und was bekommt Mama nun?
Ceyda spielt draußen, und Fuat hat Spätschicht an diesem Tag und hat sich vorher noch mal hingelegt. Als er in die Küche herunterkommt, schreckt Gül hoch.
– Wie spät ist es?, fragt er, und noch ehe Gül antworten kann, fährt er sie an: Was habe ich dir gesagt, wann du mich wecken sollst? Und was machst du hier? Tust so, als seist du kaum älter als deine Tochter. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass du mal fünf Minuten die Uhr im Auge behältst?
Ceren sitzt still am Boden, eingeschüchtert von ihrem schreienden Vater, während Gül aufgestanden ist und nun nicht weiß, wohin mit den Händen. Er hat recht, er hat vollkommen recht, also sagt sie:
– Entschuldige bitte, ich war
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