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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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das ihr wohl Mut machen soll.
     
    – Warum haben wir keine Nachricht?, fragt Gül. Wie hast du denn dem Mann das Haus beschrieben, wenn du keine genaue Adresse hast? Eine Adresse, an die wir ein Telegramm schicken könnten. Wenn dem Mädchen etwas zustößt, dann lasse ich dich nicht weiterleben.
    Sie sind in Deutschland, es ist Freitag, Montag müssen sie arbeiten, Gül schläft in dieser Nacht genauso wenig wie Ceyda im Haus des Polizisten.
     
    – Gül und Fuat haben einen Unfall gehabt, ruft Güls Stiefmutter Arzu aufgeregt, Gott bewahre, aber ich glaube, sie sind tot. Ceren auch.
    – Was?, sagt Timur. Was redest du da? Was für ein Unfall? Dem Schmied ist die Angst anzusehen. Als hätte man sein Blut in eiskaltes Wasser getaucht, so taub fühlt sich alles an.
    – Woher weißt du das? Sprich, sprich!
    – Sieh, sieh nach draußen. Ceyda kommt ganz allein zurück.
    |89| – Weib, da kommst du zu mir und rennst nicht zu ihr?, sagt Timur, schiebt seine Frau beiseite und läuft los. Die Furcht treibt sein Herz an, schneller zu schlagen, aber es scheint das kalte Blut nicht durch den Körper pumpen zu können. Noch bevor er Ceyda sieht, ist da etwas in ihm, das ihm zuflüstert, seiner Tochter sei nichts geschehen, seiner Gül, seinem Lamm, dem Glanz seiner Augen. Nein, wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte er das gespürt.
    Als er Ceyda erblickt, wie sie auf ihn zuläuft, entspannt er sich, geht in die Hocke und breitet die Arme aus.
    Ceyda rennt, weint und lächelt.
    – Komm her, komm her, mein Schatz.
    Timur streicht über Cerens Kopf, während er sie mit einem Arm umfasst und hochhebt.
    – Komm her, alles ist gut. Erzähl mir, was passiert ist.
     
    Mehr als zweitausend Kilometer entfernt, fragt Gül sich, was denn geschehen sein könnte. War der Polizist wirklich vertrauenswürdig? Haben sie die Wohnung gefunden? Sie hat Fuat gedrängt, Havvas Istanbuler Adresse herauszufinden, um ein Telegramm dorthin zu schicken.
Ist Ceyda dort? Erbitten schnelle Antwort.
    Vier Stunden später:
Ceyda nicht hier. Hoffen, alles ist gut
.
    Samstagnachmittag und Gül bewegt sich durch den Garten und das Haus wie ein aufgezogenes Spielzeug. Sie weiß nicht, was sie tun kann, damit die Zeit schneller vergeht. Sie denkt an den Whisky im Schrank. Was Fuat hilft, kann vielleicht auch ihr helfen, aber sie hat Angst, die Kontrolle zu verlieren. Vielleicht braucht Ceyda sie. Jetzt. Nüchtern. Bei klarem Verstand.
    Ich hatte es ihr versprochen, denkt Gül, ich hatte es ihr versprochen, dass ich sie nie mehr alleinlasse. Meine Mutter war nicht für uns da, weil sie gestorben ist. Das wäre meine einzige Entschuldigung, tot zu sein.
    |90| Es ist schlimmer, als zu glauben, sie sei wieder schwanger. Es ist schlimmer, als allein in einer Küche zu sitzen und die Tage wollen einfach nicht vergehen. Es ist schlimmer, als sich die Nase zu brechen und die Stiefmutter möchte keinen Arzt im Haus. Es ist schlimmer, als über einem Abgrund im Keller eines Hauses zu hängen und den Tod zu fürchten.
    Herr, gib, dass ich mit meiner Tochter vereint werde, betet Gül, Herr, dein Wille geschehe, aber mute mir diese Trennung nicht zu. Herr, ich will nicht klagen, ich bin gesegnet mit zwei wundervollen Töchtern, einem Vater, wie man ihn sich nur wünschen kann, ich bin gesegnet, weil ich meiner Schwester helfen konnte zu studieren, ich bin gesegnet, weil ich nicht so viel Leid erfahren musste wie Saniye, Herr, ich weiß meinen Platz hier auf Erden zu schätzen, aber bitte, bitte nimm mir nicht meine Tochter.
    Am Samstagabend kommt Timurs Telegramm:
Ceyda wohlbehalten hier. Ich küsse euch alle
.
     
    Es dauert noch drei Wochen, bis alle Formalitäten erledigt sind und Fuat und Gül Ceyda am Flughafen in Hamburg abholen können. Drei Wochen, in denen die Eheleute kein Wort miteinander reden und Fuat sich fragt, warum er sich um diese Pillen gekümmert hat, wenn er nun doch nichts davon hat. Drei Wochen, die ihm Zeit genug sind, ein Auto zu kaufen. Ein Auto, um das er viele Worte macht, die Gül einfach ignoriert.
    Zu Fuß sind es kaum zehn Minuten bis zur Arbeit, der Ort, in dem sie wohnen, ist nicht sonderlich groß, sie sind gerade aus dem Urlaub zurück, für den sie viel Geld ausgegeben haben. Fuat hat laut Selbstgespräche geführt, was dieser verfallene Flug, der neue Pass und die Telegramme gekostet haben. Er hat gerechnet, am Küchentisch sitzend, laut genug, immer wieder, aber er konnte nicht erkennen, ob Gül die Zahlen wahrnahm. Ob es sie

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