Heimstrasse 52
von ihrem Ärger ablenkte.
|91| Das Auto ist gebraucht, gut in Schuss, es kostet nur so viel wie zwei Flugkarten, im nächsten Jahr bringt es uns in die Türkei, alle vier, mit fünf oder sechs Tankfüllungen, das spart uns Geld, sehr viel Geld, das wird die beste Anschaffung sein, die wir bisher gemacht haben. Wir müssen unsere Einkäufe nicht mehr selber tragen, wir fahren das Obst und Gemüse bis vor die Haustür. Das ist doch ein Land, da blättert man ein paar Scheine hin und hat ein Auto, es gibt ein Angebot, hier kann man etwas kaufen für sein Geld, da steht man nicht vor leeren Regalen. Und diese Deutschen haben ja auch keine Ahnung vom Handeln. Ein wenig gewieft muss man sein. Den Preis habe ich fast um die Hälfte gedrückt.
Gül würde ihn am liebsten anschreien, dass er endlich sein Maul halten soll. Dass sie keine Lust hat, sich seine kleinlichen Matheaufgaben anzuhören, dass er sich gerne sein verdammtes Auto kaufen kann, dass es sie überhaupt nicht interessiert. Doch sie redet nicht mit ihm. Kein einziges Mal richtet sie das Wort an ihn. Sie sagt nicht einmal: Schau, deine andere Tochter ist gerade in die Schule gekommen. Kümmere dich doch wenigstens um sie, wenn du ein schlechtes Gewissen hast, und versuch nicht, dich und uns abzulenken. Schwafle nicht den ganzen Tag von einem Auto, das ist nur ein Haufen Blech, genau wie das, was aus deinem Mund kommt.
Als Fuat am Wochenende nach Hause kommt, betrunken, aber nicht volltrunken wie sonst oft, wiederholt er die Worte, die Gül kränken, die er für sich behalten sollte, anstatt mit Rechenaufgaben herumzuprotzen:
– Eigentlich bevorzuge ich ja schlanke Frauen.
Gül schiebt ihn fort, nimmt ohne ein Wort ihre Decke und ihr Kissen und geht hinunter in die Küche.
Doch als Ceyda zurück ist, die Familie wieder beisammen, wird Güls Herz weicher, und obwohl sie sich innerlich dagegen sträubt, fließen die Worte bald wieder.
Gott liebt mich, denkt sie, er lässt mich leiden, er quält |92| mich, er erlegt mir Prüfungen auf, doch am Ende badet er mich im Licht. Ich habe keinen Grund zur Klage.
– Weine nicht, mein Schatz, weine nicht.
– Es tut so weh.
– Die Nelke wird dir den Schmerz nehmen, behalt sie nur im Mund, du wirst sehen, gleich spürst du fast nichts mehr.
Ceren liegt neben ihrer Mutter und wünscht sich, dass dieser Schmerz aufhört, dass ihre Mutter sie noch fester an ihren großen Busen drückt, dass es sich in ihrem Mund genauso weich anfühlt wie an ihrer Wange, dass dieser Schmerz verschwindet, der dumpf und stechend zugleich ist und ihr kaum Raum zu atmen gibt.
Die Tür des Schlafzimmers geht auf.
– Was machst du denn hier?, sagt Fuat zu Gül. Und du, müsstest du nicht in der Schule sein?
– Schschsch, sagt Gül, damit er seine Stimme etwas senkt. Sie legt Cerens Kopf vorsichtig auf das Kissen und steht auf. Ihre Tochter wimmert so leise, dass man es kaum hören kann.
– Sie hat Zahnschmerzen, sagt Gül.
– Die kann sie gerne haben, sagt Fuat, aber was machst du hier? Solltest du nicht auf der Arbeit sein?
Gül schließt die Schlafzimmertür hinter sich.
– Ja, sagt sie, ich sollte, aber du siehst doch …
– Was sehe ich? Das ist Arbeit, das ist eine Fabrik, da kannst du nicht ein und aus gehen, als sei das die Schmiede deines Vaters.
– Sie werden mich schon nicht gleich rausschmeißen.
– Kein Wunder, dass wir aus einem Land kommen, in dem es einfach nicht vorwärtsgeht. Sieh dich mal an, nicht das geringste Pflichtgefühl.
– Doch, sagt Gül, doch, doch. Aber ich bin nicht mit der Fabrik verheiratet und habe auch keine Kinder mit ihr.
Ich nicht mit Fabrik verheiratet, hau ab, Arschloch, waren |93| die Worte, die Saniyes neuer Mann seinem Vorarbeiter ins Gesicht geschleudert hat. So hat Saniye es erzählt, und Gül war so beeindruckt davon, dass sie die Worte nun wiederholt.
Auch aus ihrem Mund klingen sie gut, findet sie. Und der Teil mit den Kindern gefällt ihr auch.
– Es gibt wichtigere Dinge im Leben als diese Fabrik, fügt sie hinzu, weil Fuat nicht gleich eine Antwort einfällt.
– Wir sind zum Arbeiten hier, nicht um weinende Kinder zu trösten. Was hat sie, Zahnschmerzen? Hast du ihr schon eine Nelke gegeben?
Gül nickt.
– Es ist ein Milchzahn, oder? Da ist die Lösung doch einfach.
Gül sieht ihn an. Er ist genauso wie alle anderen Männer. Nur Saniyes neuer Mann scheint anders zu sein.
Saniye hat Yılmaz hier kennengelernt. Er stammt wie sie aus Malatya, doch er hat in
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