Heimstrasse 52
Istanbul studiert, ist dort auf die Straße gegangen, hat protestiert, wurde von der Universität verwiesen und ist nach Deutschland. Nicht etwa wegen der Arbeit, sondern weil er wegwollte aus diesem Land, das er zu verachten gelernt hatte. Er spricht vom Proletariat, von den Rechten der Arbeiter, von Gewerkschaften und Genossen und anderen Dingen, die sich für Gül fremd anhören.
Er hat Saniye im Sommer in Malatya geheiratet, und nun ist Saniye schwanger, und als ihr eines Morgens schlecht war, ist Yılmaz einfach daheimgeblieben.
Und hat seinem Vorarbeiter, als dieser ihn zurechtstauchen wollte, weil er am Vortag unentschuldigt gefehlt hatte, mit seinen paar Worten Deutsch angebelfert: Ich nicht mit Fabrik verheiratet, hau ab, Arschloch.
So ein Mann ist Fuat nicht, doch zu Güls Überraschung sagt er nun:
– Ich kümmere mich um diesen Zahn.
|94| Er greift schon nach der Klinke, als Gül sagt:
– Sei sanft mit ihr.
Fuat hält inne und sieht sie kopfschüttelnd an.
– Du erliegst dem Wahn, ich sei ein Monster. Zieh dich an, geh zur Arbeit. Vertrau mir, ich regle das schon.
Ceren war noch nie mit ihrem Vater allein im Schlafzimmer. Der Geruch von Gewürznelken wird sie von jetzt an immer an diesen Moment erinnern, in dem sie nicht wusste, ob der Schmerz in ihrem Zahn größer war oder die Angst vor dem, was da wohl kommen mochte.
Ihr Vater lächelt auf eine Art, die Ceren selten sieht, weil sie meistens schon schläft, wenn er so lächelt, dieses Lächeln braucht meist zwei Whisky-Cola, um zum Vorschein zu kommen.
Fuat setzt sich auf das Bett.
– Es tut sehr weh, nicht wahr?, sagt er.
Ceren nickt vorsichtig.
– Du Ärmste. Ich war Friseur, als wir noch in der Türkei gewohnt haben, das weißt du, nicht wahr?
– Ja, flüstert Ceren.
Ihr Vater hat keinen Busen, an den sie sich flüchten könnte.
– Ich hatte einen Laden. Du weißt doch noch, wo wir im Sommer immer Kebap gekauft haben?
Was er
immer
nennt, sind drei Mal gewesen.
– Ja, sagt Ceren nun etwas lauter. Als könnte ihre Stimme den Schmerz des Zahnes übertönen.
– Da um die Ecke hatte ich meinen Laden, und die Leuten kamen zu mir und haben sich die Haare schneiden und sich rasieren lassen. Aber weißt du, was Friseure noch gemacht haben früher?
– Nein, sagt Ceren, weil ein Kopfschütteln ihr die Tränen in die Augen treiben würde.
– Sie haben Zähne gezogen. Damals gab es noch keine Zahnärzte, deshalb sind die Menschen zum Friseur gegangen, |95| wenn sie Zahnschmerzen hatten. Und der hat ihnen geholfen. Möchtest du, dass ich dir helfe?
Jetzt schüttelt Ceren den Kopf, weil sie Angst hat, Nein zu sagen.
– Gut, sagt Fuat, müssen wir auch nicht. Aber ich würde gerne mal wissen, welcher Zahn das ist, der dir so weh tut. Magst du ihn mir mal zeigen?
Ceren zögert.
– Ich werde nichts tun, keine Angst. Schau.
Er legt sich beide Hände auf den Rücken. Ceren öffnet ihren Mund und zeigt mit dem Finger auf die Stelle, die schmerzt.
– Darf ich etwas näher kommen?
Ceren nickt mit offenem Mund, und Fuat schiebt den Kopf vor und sieht in den Mund seiner Tochter.
– Okay, sagt er, du kannst wieder zumachen. Damit kenne ich mich aus. Gleich wird das nicht mehr weh tun, glaub mir. Du musst jetzt deine Augen schließen und die Zähne ganz fest aufeinanderbeißen, beißen, egal, wie weh es tut. Du musst beißen, beißen, beißen und die Augen geschlossen halten, egal, was passiert, sonst kann es nicht funktionieren. In Ordnung? Dann mach die Augen zu und beiß. Beiß noch fester. Tut es weh? Gleich ist es vorbei. Halte die Augen geschlossen.
Ceren hört das Geräusch von Schubladen, die geöffnet und geschlossen werden.
– So, sagt Fuat, vertrau mir, ich werde dich nicht anfassen. Jetzt musst du den Mund ganz weit aufmachen. Noch weiter. Und die Augen geschlossen halten. Feste zu. So. Das wars. Mund zu, Augen auf.
Ceren sieht, wie ihr Vater etwas Weißes zwischen Daumen und Zeigefinger hält.
– Kein Zahn, kein Schmerz, sagt er. Oder tut es noch weh? Ceren ist verwirrt und spürt tatsächlich keinen Schmerz |96| mehr. Aber das ist doch nicht ihr Zahn in der Hand ihres Vaters?
– Hier nimm, sagt Fuat und gibt ihr den Zahn. So einfach. Ein ganz kleiner Trick, ich verrate ihn dir später. Gib mir den Zahn wieder. Und jetzt zieh dich an und auf zur Schule.
Gewieft muss man sein, er hat sich nicht umsonst ganze Nächte an Pokertischen um die Ohren geschlagen, er weiß, wie man blufft.
Nachdem seine Tochter
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