Heimstrasse 52
kümmern uns darum, Frau Yolcu. Haben Sie ein wenig Geduld.
Gül nimmt sich vor, dass sie morgen noch mal hingehen wird. Und übermorgen. Wenn es sein muss, jeden Tag. Sie |152| wird hingehen, bis endlich etwas passiert, bis es ihnen peinlich wird, sie hat es sich nun in den Kopf gesetzt, und sie wird nicht aufgeben.
In der Pause kommt Işık zu ihr.
– Warst du im Büro und hast nach den Abrechnungen gefragt?
– Ja, sagt Gül.
– Toll, sagt Işık, echt toll. Da rechne ich dir vor, dass es hier und dort nicht reicht, und dann kommt das dabei raus.
– Was?, fragt Gül, die sich nicht erklären kann, warum Işık sich so aufregt.
– Sie haben sich verrechnet. Sie haben mir hundert Mark zuviel gegeben, das hätten die nie gemerkt, wenn du nicht gefragt hättest. Nächstes Mal ziehen sie es mir ab.
Gül schaut Işık an und weiß einige Sekunden lang nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Sie sieht, wie sich Işıks Gesichtszüge noch weiter verhärten.
– Das ist nicht lustig, sagt sie.
– Nein, sagt Gül, das ist nicht lustig. Aber du musst dich auch nicht aufregen. Du bist durch meine Schuld um dein Geld gekommen. Ich werde dir hundert Mark geben, ich brauche nur ein wenig Zeit dafür. Es soll nicht zu deinem Schaden sein, dass ich mein Recht gesucht habe. Das wäre nicht richtig.
– Das kann ich nicht annehmen.
Gül lächelt jetzt noch breiter, weil Işıks Augen etwas anderes sagen als ihr Mund.
– Das konnte wirklich niemand ahnen, oder? Ich werde dir das Geld geben, lass mir nur ein wenig Zeit.
Gesine und Ceren sitzen in der Küche und lesen Bücher, in denen Mädchen, die kaum älter sind als sie, Pferde besitzen oder wenigstens welche zur Pflege haben, auf denen sie reiten dürfen. Pferde, auf deren Rücken sie sich fühlen, als könnte |153| das Leben nicht mehr größer werden. Für beide Mädchen ist diese Welt fremd. Im Gegensatz zu Ceren kennt Gesine nicht mal jemanden, der schon mal geritten ist, und als sie im Zirkus einmal auf einem Pony saß, hatte sie vergessen zu atmen. Sie fühlt sich den Heldinnen der Romane nah, nur die Pferde scheinen ihr weit weg.
Ceren kennt Pferde aus den Ferien, auch wenn sie selbst bisher nur auf einem Esel geritten ist. Ihr Großvater war Kutscher, und sie teilt Gesines Begeisterung für Pferde nicht, vielmehr hat sie noch die Warnungen ihrer Großmutter im Ohr: Stell dich nie hinter ein Pferd, es könnte ausschlagen.
In der Heimatstadt ihrer Eltern gibt es noch immer einige Kutschen, und sie mag zwar auf einem Pferdewagen mitfahren, doch sie hätte Angst, auf einem Pferd zu sitzen. Sie weiß nicht, ob Gesine bewusst ist, wie groß diese Tiere sind.
Ceren kennt Pferde aus der Nähe, aber das Leben der Heldinnen der Bücher ist ihr fremd. Nie müssen sie im Haushalt helfen, sie haben meist keine Geschwister, müssen nicht häkeln und stricken lernen, und die Freiheit, die sie genießen, scheint nichts mit dem Rücken der Pferde zu tun zu haben, sie ist viel größer.
Doch die Freundinnen sitzen gerne zusammen in der Küche der Yolcus auf der Couch am Ofen, jede ein Buch in der Hand, und träumen sich fort, dorthin, wo sie sich nicht auskennen, während Gül das Essen bereitet.
Immer wieder wirft sie einen Blick auf die Mädchen, und jedes Mal ist es, als würde ihr Herz ein wenig weiter werden, bis es nicht mehr in sie hineinpasst, bis es die ganze Küche ausfüllt, bis sie glaubt, diese Wärme könnte ein Haus heizen. Wie friedlich und glücklich sie aussehen und wie das Glück auf sie überschwappt und noch größer wird. Was könnte schöner sein als eine Tochter, der es gutgeht? Freude, die sich nicht spiegeln kann, kann sich auch nicht vermehren. Wenn dein Herz schlägt, und sei es noch so heiter und heil, wenn es |154| nur für dich schlägt, bleibst du allein in diesem Leben, das Gott dir geliehen hat.
Als Fuat hereinkommt, dreht Gül ihren Kopf, um ihren Mann anzusehen, das selige Lächeln auf den Lippen. Einen Moment lang fragt Fuat sich, ob seine Frau getrunken hat. Gül deutet mit dem Kopf auf die beiden Mädchen und legt einen Finger auf die Lippen. Sie schaut ihren Mann an, von ihm hat Ceren diese geschwungenen, dicken Augenbrauen, die breite Stirn und die hohen Wangenkochen.
Er ist der Vater ihrer Töchter, und so schwer es mit ihm manchmal sein mag, in diesem Moment übertragen sich Güls Gefühle auf ihn, und sie verspürt den Impuls, einfach zu Fuat zu gehen und ihn zu umarmen, um dann Seite an Seite mit ihm zu stehen und
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