Heimstrasse 52
auf einmal.
So ist es also, Kinder zu haben.
Und sie werden immer Kinder bleiben, egal, welchen Weg sie wählen und gehen.
Sie hatte keine Mutter, die ihr das hätte beibringen können.
In Ceydas Alter war sie bereits verheiratet.
Ceyda raucht, natürlich, und wahrscheinlich hat sie sich schon längst verliebt. So wie Gül damals in Recep. Bestimmt ist Ceydas Herz viel wilder und ungestümer, als sie es sich anmerken lässt. Sie wird ihre Geheimnisse haben, nicht nur die Zigaretten. Doch Gül hat sie immer auch als Kind vor Augen. |160| Das Kind, das
Mama
ruft, ein Klang, der für immer in dieser Welt bleiben wird.
Mama
hat sie damals gerufen, aber ist Gül diesem Ruf gerecht geworden? Hat sie alles getan, was eine Mutter tun muss? Woher soll sie das wissen? Auch das hat sie nie gelernt. Sie hat nur gesehen, wie ihre Stiefmutter es gemacht hat. Und die ist wahrscheinlich nicht mal ihren eigenen Kindern eine gute Mutter gewesen. Sie hat nie gelobt und gekost, nie hat sie ihre Kinder an ihren Busen gedrückt und sie vor der Welt beschützt. Vielleicht weil auch sie niemanden hatte, der ihr Schutz und Halt bot.
Gül hatte ihre Mutter nur kurz, sehr kurz, was sind schon sechs Jahre, wenn man sich an die ersten zwei, drei sowieso kaum erinnern kann? Was sind schon sechs Jahre, wenn man auf die vierzig zugeht? Was sind schon diese zwei, drei Jahre, die sie mit ihrer Mutter hatte? Abgezählte Tage, die viel zu schnell vergangen sind.
Sie konnte es damals nicht lernen, wie man es macht. Sie hat ihre Töchter zurückgelassen in der Türkei, aber wie viele andere haben das auch getan? Waren die alle auch jung und dumm?
Nun sind die Töchter hier aufgewachsen und können selber einen Beruf wählen und ihr eigenes Geld verdienen, aber Gül weiß nicht, ob sie eine gute Mutter ist. Sie tut, was sie kann, aber man könnte immer noch mehr tun, und alles, was sie weiß, ist, dass sie es besser macht als ihre Stiefmutter, doch das ist nicht so schwer.
Mein Leben, sagt sie sich, mein Leben würde ich geben, diese Leihgabe. Aber das sagt sich so leicht. Wer weiß, ob ich es wirklich könnte. Hätte ich mich vor das Auto geworfen, nur damit es Ceren nicht anfährt? Was hätte ich getan in so einem Moment?
Aber ich kann die Kinder nicht bewahren vor der Welt, sie haben ihr eigenes Leben. Haben es schon immer gehabt. Sie |161| sind durch mich gekommen, aber nicht von mir. Und doch, wenn ich sie nur beschützen könnte, auch wenn ich niemanden hatte, der mich beschützt hat.
Ceyda sieht ihre Mutter verwundert an, als sie zurück in die Küche kommt.
Selten sitzt Gül einfach so da in jenen Tagen, zumindest ruht eine Handarbeit in ihrem Schoß, wenn sie gerade müßig ist. Ceyda sieht die geröteten Augen, doch auch das Lächeln, ein Lächeln, das sie umfängt und festhält, das ihr sagt, dass der Klang dieser Stimme, der Geruch dieses Körpers, die Berührung dieser Haut nicht enden wird. Sie setzt sich neben ihre Mutter, die den Arm um die Schulter der Tochter legt und sie noch näher an sich zieht.
– Möge alles so werden, wie du es dir wünschst, sagt Gül, mögen dir alle Wege offenstehen, und mögest du nicht frieren im Gegenwind.
Ceyda merkt, wie auch ihre Augen feucht werden, sie atmet den Duft ihrer Mutter ein, diesen erdigen, doch leichten Geruch, der bereits ahnen lässt, wie hell ihre Haut ist, wie üppig ihr Fleisch und wie weich ihre Worte.
Gleichzeitig freut Ceyda sich, dass die Schule bald vorbei sein wird. Dass sie nicht mehr endlose Stunden auf der Bank sitzen wird, vor ihr Lehrer, die sie nicht verstehen. Sie und die anderen Kinder aus der Heimstraße. Die Sätze sagen wie: Schaut einfach zu Hause im Lexikon nach. Oder: Das hätte man im Duden nachschlagen können.
Die über den Zweiten Weltkrieg reden, wieder und wieder und wieder, und die glauben, diejenigen, die sich dafür nicht interessierten, wären verkappte Nazis. Lehrer, die sie Leyla nennen und versuchen, ihren Kopf mit Dingen zu füllen, die sie langweilig findet.
Bald wird sie in einem Laden stehen und mit Menschen reden, über das Wetter, über die Einkäufe, über die Kinder und Geschwister. Bald wird sie Geld verdienen und nicht mehr |162| ihre Mutter fragen müssen, wenn sie etwas möchte. Ihre Mutter, die nicht wiederum den Vater fragt, sondern einen Weg findet, Ceyda und Ceren ihre Wünsche zu erfüllen. Es wird etwas mehr Geld im Haus sein, und Ceyda wird zu ihrer Aussteuer selber beitragen können.
– Hol heute Abend deine
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