Heimstrasse 52
immer geblieben, sie ist genauso wie Gottes Befehl. Der Sehnsucht können wir ebenso wenig entkommen wie dem Tod.
Gül runzelt die Stirn, als Işık ihr vorrechnet, wie knapp sie mit dem Geld sind.
Soundso viel die Rate für das Haus in der Türkei, soundso viel für zwei Hektar Land, die Reparatur am Auto, eine kleine Summe für die Mutter, die sonst niemanden hat, der sie versorgt, soundso viel für einen Fernseher mit Fernbedienung, ein neues Sofa, weil aus dem alten schon die Federn rausschauten.
– Die Ausgaben hören ja nie auf, sagt Işık, wir arbeiten und rackern und plagen und placken uns, kriegen aber kaum zwei Groschen auf die hohe Kante. Ehe du dich versiehst, ist wieder ein Jahr um, und man gibt einen Haufen Geld für den Urlaub aus. Die Jahre gehen vorbei, ohne dass wir es richtig merken, sie fließen dahin wie Wasser.
– Wie viel hast du gesagt, hast du diesen Monat bekommen?
Işık nennt die Summe.
– Ich habe über hundert Mark weniger, sagt Gül, dabei haben wir genau die gleichen Schichten gearbeitet.
Sie muss daran denken, wie es damals in der Näherei war, |150| wo sie angeblich so schlecht bezahlt wurde, weil sie keine Papiere hatte.
Gleich morgen, nimmt sie sich vor, gleich morgen werde ich ins Büro gehen und mich beschweren. Es kann doch nicht sein, dass ich immer benachteiligt werde, dass immer alle mich übergehen und ich brav meinen Mund halte, es muss sich doch mal etwas ändern. Gleich morgen.
Abends sitzt sie zu Hause, häkelt an einer Spitzendecke, und ihr geht durch den Sinn, was Işık gesagt hat. Die Jahre fließen wie Wasser dahin. Sie erinnert sich an die großen Wasser, die im Sommer durch die Obstgärten der Sommerhäuser geschleust wurden, an den Bach, in dem ihr Vater seine Uhr verloren hatte, an den Pumpbrunnen, an dem sie ihrer Schwester einen Stein ans Auge geworfen hatte.
Damals flossen die Jahre auch wie Wasser, womöglich fließen sie nun schneller, das mag sein, doch etwas anderes hat sich geändert.
Damals war das Wasser frei. Es hatte Kraft, und man musste es in seine Bahnen lenken oder heraufpumpen am Brunnen, das Wasser floss und suchte sich seinen Weg. Heute sitzen sie in Häusern, in denen das Wasser in Leitungen gefangen ist und keine Kraft mehr hat. Genauso wie das Wasser sind die Menschen gefangen, gefangen in diesem Leben hier, zwischen Arbeit, Geld, Ausgaben, noch mehr Arbeit, noch mehr Ausgaben, die Fabrik, das Haus, der Garten, das Auto, der Urlaub, die Kinder.
Timur war den ganzen Tag in der Schmiede, aber dort konnte man ihn besuchen, sitzen, reden, ihm die Beine kratzen, Tee trinken. Ceyda und Ceren holen Gül manchmal von der Fabrik ab, doch sie kennen nur das Tor, das Innere haben sie nie betreten. Tee trinken und reden könnte man drinnen allerdings sowieso nicht.
Wie oft hat Gül bei ihrem Vater in der Schmiede gesessen, hat ihm bei der Arbeit zugeschaut, das Zischen gehört, wenn |151| der Schweiß vom Kinn des Schmieds auf das glühende Eisen tropfte, und nun kämmt sie selber Wolle, ohne zu wissen, was später daraus gemacht wird, acht Stunden am Tag, sie sieht die Wände der Fabrik länger als die Gesichter ihrer Töchter.
Doch damit ist sie ja nicht allein, alle sehen die Wände der Fabriken und Büros und Geschäfte länger als sie ihre Männer und Frauen und Kinder sehen, alle leben in einer Welt, in der sie gefangen sind wie das Wasser in der Leitung. Wie soll man auch frei sein, wenn nicht mal das Wasser es sein kann?
Einen Moment hält Gül inne und schaut auf von ihrer Handarbeit. Sie merkt, wie ihr heiß wird, als könnte jemand ihre Gedanken gelesen haben.
In was für Gedanken bin ich da abgetaucht, wenn das jemand mitkriegte, würde er lachen.
Was geht mich das Wasser an und wie gefangen wir hier sind. Ich gehe morgen ins Büro und frage, warum ich weniger Geld bekomme als Işık.
– Wir werden uns darum kümmern, Frau Yolcu, sagt am nächsten Tag die Dame im Büro, und ohne ihr wirklich zu glauben, geht Gül zurück an ihre Arbeit.
Wir werden uns darum kümmern. Wahrscheinlich werden sie gar nichts tun, die wollte mich nur abwimmeln, aber was hätte ich sagen sollen? Ich gehe einfach morgen noch mal hin und frage noch mal nach. Ich lasse nicht locker. Ich habe gearbeitet für das Geld, ich habe es verdient im Schweiße meines Angesichts.
Und tatsächlich steht sie am nächsten Tag wieder im Büro und fragt erneut nach, was denn mit dieser Abrechnung nicht stimme, und die Frau sagt dasselbe:
– Wir
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