Heimstrasse 52
Der Ärmste, sagt Gül. Er lebt in einer eigenen Welt. Er muss sich sehr einsam fühlen.
|157| Fuat setzt an, um etwas zu sagen, schweigt aber doch, schüttelt den Kopf und schenkt sich eine Whisky-Cola ein, bevor er ins Wohnzimmer geht. Gül folgt ihm kurz darauf, im Fernsehen läuft eine Aufzeichnung aus dem Ohnsorg-Theater.
Fuat legt eine Packung Lord auf den Tisch und lehnt sich zurück, ohne eine Zigarette zu nehmen. Er selber raucht Marlboro, Gül raucht Stuyvesant, nicht heimlich, aber auch nie in Fuats Gegenwart. Ceyda schaut auf die Packung und merkt, wie ihr heiß wird. Sie vermeidet es, ihren Vater anzusehen. Die Zigaretten waren in der Tasche ihrer Jacke. Die hinter der Gartentür hing. Ceyda wagt kaum zu atmen und wartet. Wartet, dass ihr Vater etwas sagt, aber der schaut nur auf den Fernseher, allenfalls ein leichtes Grinsen kann man ausmachen. Er holt seine Marlboros aus der Hemdtasche unter seinem Pullunder und steckt sich eine an.
Ceyda weiß nicht, was sie tun soll. Sie spürt, dass sie rot ist, sie weiß, dass ihr Vater keine Zweifel daran hat, wem die Lord gehören. Soll sie etwas sagen, muss sie etwas sagen, wird er etwas sagen?
Gül begreift ziemlich schnell, was gerade geschieht. Sie hat ihre Tochter zwar nie rauchen sehen, aber sie hatte mehr als eine Ahnung. Sie kann die Hitze, die Ceyda neben ihr ausstrahlt, spüren. Innerlich schilt sie ihre Tochter für die Unvorsichtigkeit.
– Ich bin müde, ich gehe ins Bett, sagt Ceyda schließlich nach etwa fünf Minuten und steht auf.
Es wird nicht mehr darüber gesprochen werden, doch Ceyda wird in Zukunft achtsamer sein. Und die nächsten drei Wochen gar nicht rauchen. Fuat wird diese Geschichte erst erzählen, als seine Tochter schon verheiratet ist und selber Kinder hat.
– Erziehung ist nicht so schwer, wird er sagen, man muss nicht viel reden, man muss nur die richtigen Dinge tun. Ich |158| wusste, dass sie nicht aufhören würde zu rauchen, wer hört in dem Alter schon damit auf, weil die Eltern es verbieten. Aber gerade dass ich nichts gesagt habe, hat sie mehr beeindruckt als eine Predigt. Sie hat bestimmt tage-, ja wochenlang keine Zigarette angerührt. Man muss wissen, wann man zu schweigen hat.
– Bist du dir sicher?, fragt Gül.
– Ja.
– Du kannst auch weiter zur Schule gehen. Auf ein Gymnasium oder wie das heißt.
– Dafür muss man gute Noten haben, und die habe ich nicht.
Ceyda war nie besonders gut in der Schule. Aber auch nicht besonders schlecht.
– Was soll ich auf einem Gymnasium? Niemand aus unserer Klasse geht dorthin. Da sind nur diese Streber, die Tag und Nacht lernen. Und Türken sind da überhaupt keine.
– Was willst du denn machen?
– Eine Ausbildung.
– Als was denn?
– Friseurin.
– Friseurin?
– Ja, Friseurin.
Gül runzelt die Stirn. Fuat war in der Türkei Friseur, und er hat seinen Beruf nicht gemocht.
– Da kommen Leute, da kann man den ganzen Tag reden.
– Das ist alles? Da kommen Leute, und man kann den ganzen Tag reden? So viel redest du doch gar nicht. Hast du dir das gut überlegt?
– Ja.
– Wirklich?
– Ja. Man ist nicht in einer Fabrik, man hat keinen Schichtdienst, man hat montags frei, man kann sich auch zu Hause |159| etwas hinzuverdienen, man kann es überall tun, hier, in der Türkei, in Italien, Spanien, egal, wo man ist, man kann Geld damit verdienen.
– Dein Vater mochte den Beruf nicht, wie du weißt.
– Ja, aber der hat rasiert und hatte immer nur mit Kurzhaarschnitten von Männern zu tun. Hier ist die Arbeit viel abwechslungsreicher, Färben, Strähnchen, Dauerwelle, Föhnfrisuren, Stufenschnitte, Pagenköpfe …
Gül sieht ihre Tochter an. Sie scheint sich Gedanken gemacht zu haben. Und Fuat wird es egal sein, wenn sie nur einen Beruf erlernt und Geld verdient.
– In Ordnung, sagt sie, wenn es dein Wunsch ist, dann werde Friseurin. Und wenn du es dir eines Tages anders überlegen solltest, kannst du immer noch auf eine Abendschule gehen. Solange mir Gott Kraft gibt, werde ich dich unterstützen.
Ceyda wird nie auf eine Abendschule gehen, sie wird Friseurin lernen, aber noch kürzer in diesem Beruf arbeiten, als ihr Vater es seinerzeit getan hat.
Als Ceyda zwei Tage nach diesem Gespräch mit einigen großen Umschlägen das Haus verlässt, um ihre Bewerbungen in den Briefkasten zu werfen, setzt Gül sich auf die Couch in der Küche, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Gleichzeitig muss sie lächeln über sich selbst.
So schnell ging das
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