Heimstrasse 52
nein, die eigentliche Schwierigkeit ist die, dass man sich nicht erreichen kann. Man kann nicht einfach die Nummer des Schmieds wählen und in seinem Haus klingelt das Telefon, er nimmt |147| den Hörer in die Hand und sagt
Gül
, da ohnehin niemand sonst bei ihm anruft.
Zunächst muss man beim Postamt in Deutschland ein Gespräch anmelden, weil eine direkte Durchwahl nicht möglich ist. Und dann muss man warten. Wenn man Glück hat, eine Stunde oder zwei oder drei, bis das Telefon klingelt und man verbunden wird.
Wenn man weniger Glück hat, dauert es sieben Stunden oder acht, und dann klingelt das Telefon mitten in der Nacht, und zu der Stimme, die klingt wie vom Grund eines Brunnens auf der anderen Seite der Erde, kommt die Schlaftrunkenheit und beim Schmied auch die Aufregung, es könne sich um eine schlimme Nachricht handeln zu dieser Stunde.
Die ersten Jahre ist das Telefonieren nicht leichter oder schöner als Briefeschreiben. Und doch erzählt Gül noch Wochen und Monate später von diesen Gesprächen, zum Beispiel von dem, wo sie nachts auf der Treppe gestürzt ist, weil sie sich so beeilt hat, wie ihr die Luft wegblieb, als sie auf dem Hintern landete und ihr ein stechender Schmerz in den Rücken fuhr, wie müde Timur zunächst klang, wie er von Sibels Fehlgeburt erzählte, der dritten mittlerweile, keine drei Monate und sie hatte schon wieder das Baby verloren, wie sie den Schmerz im Rücken vergaß und weinte, wie sie erschrocken auf die Uhr sah, als sie auflegte, über zwanzig Minuten, was Fuat schimpfen würde, wenn die Rechnung kam, wie sie kaum die Treppe hochsteigen konnte. Wie lange der Bluterguss noch zu sehen war, wie die Farbe der linken Hälfte ihres Hinterns über acht Wochen von lilafarben über blau zu grün bis gelb wechselte, wird sie für sich behalten. Wie sie vor dem Spiegel stand und den Hals verdrehte und sich fragte, ob dieses Violett nicht dasselbe war wie das der Ringe unter den Augen ihrer Mutter, bevor sie starb.
Wie Fuat ins Schlafzimmer kam, als sie so dastand, den Slip auf den Knöcheln, das Nachthemd hochgerafft, und wie er |148| sagte: Da präsentierst du also deine Waren, und wie behutsam er an diesem Abend war.
Doch auch als die Vermittlung durch das Postamt wegfällt, wird es nicht viel leichter, weil man nicht durchkommt. Gül, Ceyda und Ceren wechseln sich ab und wählen sich an der Drehscheibe die Finger wund. Meistens hören sie das Besetztzeichen noch bevor sie die Nummer zu Ende gewählt haben. Gül und Ceyda sind geduldig, sie schaffen es, bis zu zwanzig Minuten hintereinander Timurs Nummer zu wählen, während Ceren nach vier oder fünf Versuchen schon unruhig wird und aufgibt.
Einige Jahre später wird Fuat strahlend nach Hause kommen und verkünden:
– Ich war bei der Post, wir werden ein neues Telefon bekommen, eins mit Tasten. Es lebe die Technik, jeden Tag erfinden sie etwas Neues, was das Leben erleichtert, und wir sitzen hier an der Quelle und können an allen Annehmlichkeiten teilhaben. Besser als hier ist es wahrscheinlich nur in Amerika. Im Herzen von Europa leben wir hier, mittendrin, man spürt den Puls der Zeit, hier pumpt das Leben, hier geschehen die Neuerungen, nicht in Anatoliens Dörfern. Niemand wird mehr wunde Finger bekommen.
Als hätte er jemals welche gehabt. Als hätte er selbst diesen Apparat erfunden.
Ceren wird mit dem Tastentelefon eine Methode entwickeln, schneller in die Türkei durchzukommen als die anderen. Sie wird nicht einfach die Nummern hintereinanderweg wählen oder gar die Wahlwiederholungstaste drücken, sie wird zunächst nur die Ländervorwahl wählen, und dann wird sie mit zusammengezogenen Augenbrauen den Geräuschen in der Leitung lauschen und nach einem kaum vernehmbaren
Klack
die Städtevorwahl eintippen, um nochmals innezuhalten und zu lauschen. Im Gegensatz zu den anderen wird sie selten mehr als sieben Versuche brauchen, um ein |149| Klingeln am anderen Ende zu hören. Außer an Ramadan, beim Opferfest oder an Neujahr, da wird es reine Glückssache bleiben, ob man durchkommt.
Das Telefonieren wird mit den Jahren leichter werden und auch deutlich billiger, aber es wird nie die erwartete Veränderung bringen. Jahrzehnte später wird Gül sagen:
– Fuat hat immer an den Fortschritt geglaubt. Dass irgendetwas besser wird, bequemer, schöner. Und dem Herrn seis gedankt, uns geht es gut, wir darben nicht, wir brauchen keine Angst zu haben, dass wir eines Tages nicht mehr satt werden, doch die Sehnsucht ist
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