Heimstrasse 52
beruhigender wirken als Klang, der Klang der Stimme eines geliebten Menschen.
Zwei Tage später ist Ceyda allein in dem Zimmer, in dem nun das Telefon steht, und aus Neugier nimmt sie den Hörer ab und hält ihn ans Ohr. Kein Geräusch. Sie dreht kurz an der Kurbel, legt aber sofort auf, erschrocken über ihren Mut.
Erst nachdem der Hörer wieder auf der Gabel liegt, hört sie, wie sich Schritte nähern, ihre Mutter kommt ins Zimmer, während Ceyda auf dem Diwan sitzt und so tut, als würde sie in einem Buch lesen.
Als das Telefon klingelt, zuckt sie zusammen. Gül scheint etwas überrascht, greift aber zum Hörer. Die Stimme am anderen Ende ist so laut, dass Ceyda sie verstehen kann.
– Guten Tag, hier ist das Postamt, sagt eine Frau, hatten Sie gerade versucht, uns zu erreichen?
– Nein, entgegnet Gül, nein, hatten wir nicht.
– Hier hat es aber gerade geläutet.
– Das muss ein Fehler sein, sagt Gül, wir möchten im Moment kein Gespräch. Vielen Dank.
– Einen schönen Tag dann noch.
|145| Nachdem Gül aufgelegt hat, schaut sie Ceyda an.
– Hast du an dem Telefon gekurbelt?
– Nein.
– Nein, wiederholt Gül und setzt sich neben sie. Sie nimmt ihr das Buch aus der Hand und schaut hinein, bevor sie es weglegt.
– Als Ceren noch klein war, aber bereits zu alt, um sich in die Hose zu machen, haben wir mal ein Picknick gemacht, vielleicht erinnerst du dich sogar daran. Am Wochenende, Saniye, Yılmaz, ich weiß nicht, ob Sevgi schon da war, wir sind mit dem Auto ins Grüne gefahren. Und irgendwann hat Ceren aufgehört zu spielen und hat sich neben mich gesetzt und nichts mehr gesagt. Und es hat angefangen zu stinken. Schlimmer als im Stall. Mein Vater hatte mal eine Kuh, die konnte er am Geruch ihres Dungs erkennen, hat er immer gesagt. Es hat gestunken, und ich habe Ceren gefragt, ob sie sich vielleicht in die Hose gemacht hat. Ich habe ihr ins Ohr geflüstert, damit sie sich nicht schämen muss vor den anderen, aber Ceren hat den Kopf geschüttelt. Und sie saß so schief, nur auf einer Seite ihres Hinterns. Sie hat noch nicht richtig verstanden, dass sie es nicht verstecken kann.
Ceyda sieht ihre Mutter an mit einem Blick, in dem das
Mama
mitschwingt, das Gül so geschmerzt hat, dieses Wort, in das sie ihren ganzen Schmerz hineingedrängt hatte, dieses Wort, das auf Papier niemals so viel Verzweiflung tragen könnte. Am Telefon aber sehr wohl. Es schwingt in ihrem Blick mit, so als wolle sie sagen: Was willst du mir schon sagen, was willst du mir beibringen? Du hast mich alleingelassen. Mehr als einmal.
– Ich sage gar nicht, dass du gerade lügst, sagt Gül, bemüht, ihre Stimme sanft und weich zu halten und sich das Weh nicht anmerken zu lassen, das Ceydas Blick auslöst. Ich sage nur: Wir dürfen nicht lügen. Vor Gott kann man nichts verstecken. Wir müssen aufrechte Menschen sein. Schau, deine Oma, sie |146| ist nicht meine Mutter, wie du weißt, und wir hatten es nicht immer einfach mit ihr, und der Herr ist mein Zeuge, sie lügt selber, aber ich werde ihr immer dankbar sein, dass sie uns beigebracht hat, nicht zu lügen.
Dieses Leben besteht aus dem, was wir hören können. Wir haben zwei Ohren und nur einen Mund, damit wir doppelt so viel zuhören wie reden. Wir haben Opa ein Telefon gekauft, damit wir uns hören können. Jeder sagt etwas, aber wenn man die falschen Dinge sagt, dann folgen auch falsche Taten. Und die Worte, die man gesagt hat, kommen nie wieder zurück, die sind für immer da. Und wenn du etwas Falsches sagst, wird da immer Unruhe in dir sein und du wirst nicht gut schlafen können und unglücklich sein. Du darfst nicht lügen, nicht mir zuliebe, sondern dir zuliebe. Weil ich möchte, dass du glücklich wirst.
Gül ist selber ein wenig erstaunt, wie sie das gerade ihrer Tochter erklärt hat.
Ceyda sieht ihre Mutter an und sagt:
– Ich habe nicht gekurbelt.
Der Moment, in dem sie Gül die Wahrheit sagt, was das Kurbeln angeht, wird erst Jahrzehnte später kommen, in einem Kurort in Deutschland.
Das Problem ist nicht, dass man nicht satt wird, die Stimme des anderen zu hören, wenn man so lange getrennt ist, das Problem ist nicht der fehlende Geruch und die Wärme, die schwieligen Hände, die Gül spüren möchte, wenn sie die Stimme ihres Vaters hört. Das Telefonieren wird nicht nur deswegen schwer, weil eine Stimme die Sehnsucht gleichzeitig stillt und nährt, es wird nicht nur deswegen schwer, weil es viel Geld kostet und man sich immer gehetzt fühlt,
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