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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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schnell, dass Gül manchmal denkt, es war zu schnell, um es überhaupt zu merken.
    Man muss stehenbleiben und zurückschauen, sonst fließt das Leben dahin wie Wasser in einem Bach. Nichts kann man festhalten, selbst wenn das Wasser hier gebändigt ist und in Leitungen fließt, es fließt nur schneller und verschwindet, ehe man nass sagen kann.
     
    – Nur noch Filme hast du im Kopf. Wie schön, nicht wahr, den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und Kassetten reinschieben, während ich in der Fabrik ackere. Such dir mal eine Arbeit.
    – Gott ist mein Zeuge, sagt Gül, noch nie habe ich allein einen Film geschaut. Ich kann das Gerät überhaupt nicht bedienen.
    – Den ganzen Tag sitzt du nur zu Hause, Arbeitslosengeld gibt es nicht mehr, und wir kriegen keinen Groschen mehr auf die Kante. Zum Glück trägt Ceyda wenigstens etwas zum |182| Einkommen bei, sonst sähe es übel aus. Das geht so nicht. Das hier ist Deutschland, es ist mir egal, wie du es anstellst, besorg dir eine Arbeit. Wir sind nicht hier, um es uns gutgehen zu lassen, indem wir faul zu Hause rumsitzen. Ich spiel schon fast nicht mehr, weil wir es uns nicht leisten können.
    Soweit Gül das beurteilen kann, ist das sogar richtig.
     
    Fuat singt längst keine Loblieder mehr auf die Arbeit, die Firma oder die Technologie, und es vergehen kaum drei Tage, ohne dass Gül Vorwürfe zu hören bekommt, immer mehr Vorwürfe, immer andere.
    – Du bringst meine Töchter gegen mich auf, beschuldigt Fuat sie neuerdings, es ist kaum fassbar, ich bin ihr Vater, aber egal, wo ich bin, sie sind nicht dort. Ich setze mich in die Küche, und Ceyda steht auf und geht raus, ich komme ins Wohnzimmer, Ceren geht, nicht mal im Garten ist eine der beiden länger als zwei Minuten, wenn ich auch dort bin, selbst wenn sie gerade dort arbeiten, lassen sie alles stehen und liegen, als müssten sie noch schnell herausfinden, wo der Pfeffer wächst. Du sitzt den ganzen Tag zu Hause und wäschst das Hirn meiner Töchter mit Kernseife, mit Kernseife und einem Antimännershampoo, du machst hier eine Weiberfront gegen mich auf, man kann sich in seinem eigenen Heim nicht mehr wohlfühlen, das ist doch nicht fassbar.
    Gül sieht den Schmerz, und sie weiß, dass die Mädchen tatsächlich die Nähe des Vaters fliehen, doch sie hat sie nie dazu ermutigt.
    – Fuat, sagt sie, Fuat, Gott möge mich strafen, auf der Stelle, wenn ich irgendetwas getan haben sollte, um die Mädchen gegen dich aufzubringen. Nie habe ich auch nur ein einziges Wort gegen dich vorgebracht.
    – Ach, ja? Und warum kann ich mich dann nirgendwo hinsetzen, ohne dass sie gleich in Bewegung geraten? Seitdem du zu Hause bist, ist das so.
    |183| Das stimmt nicht, würde Gül gerne sagen, doch sie hält den Mund, während ihr Mann sich in Rage redet, wie er es tut, seit sie ihn kennt.
    Das stimmt nicht, könnte sie sagen, das fällt dir nur jetzt erst auf, weil du in letzter Zeit so unzufrieden bist. Früher war das auch schon so, aber da bist du Vergnügungen hinterhergejagt, du hattest mehr Energie für egoistische Zerstreuungen und hast vieles um dich herum nicht bemerkt. Damals oder heute, hast du dich je gefragt, warum das so ist? Weil ich sie aufhetze, glaubst du das wirklich? Wie viele Jahre leben wir zusammen, kennst du mich wirklich so schlecht? Hast du dich je gefragt, ob es spurlos an den Kindern vorbeigeht, wenn sie ihren stinkenden Vater aus dem Auto auf das Sofa tragen? Ob es sie schmerzt, zu sehen, wie großzügig er gegenüber Fremden ist und wie ihn der Geiz packt, wenn es um seine Töchter geht?
    Sie würde es sagen, es ist nicht so, dass sie sich nicht traut. Das mag früher so gewesen sein, aber nun hat sie den Mut. Aber sie hat auch die Gewissheit, dass er es nicht verstehen würde. Sie weiß beim besten Willen nicht, ob das daran liegt, dass er es nicht verstehen kann oder dass er es nicht verstehen will.
    Sein Horizont ist beschränkt, wird sie in späteren Jahren über ihren Mann sagen, ich habe ihn nie wirklich verstanden, aber ich begreife, dass er die Welt aus einem sehr kleinen Fenster heraus betrachtet. Und das auch nur mit einem Auge.
    Was sie sieht, ist, dass Fuat gerade genug davon hat, dass immer jemand da ist, wenn er nach Hause kommt. Sie sieht, dass er seine Ruhe haben möchte. Nur warum das so ist, das kann sie nicht erkennen.
     
    Ceyda hat viele Liebesfilme gesehen in den letzten Jahren, manche wieder und wieder. Gül kann nicht sagen, ob ihre Tochter romantischen Vorstellungen

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