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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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nachhängt, ob sie eine |184| innere Welt bewohnt, die sich kaum nach außen spiegelt. Ob sie glaubt, der richtige Mann würde alles ändern.
    Es ist ihr letztes Ausbildungsjahr, und es kommen die ersten jungen Männer mit ihren Eltern und wollen um ihre Hand anhalten. Bei einigen weiß Gül, dass Ceyda noch nie mit ihnen geredet hat, bei anderen ist sie sich nicht sicher. Gibt es jemanden, in den Ceyda verliebt ist, so wie sie damals in Recep? Wenn ja, kann sie es ihrer Tochter ermöglichen, dass sie diesen Jemand ungestört sieht? Oder gar heiratet?
    Viele Menschen kann Gül mittlerweile lesen, sie kann voraussagen, was sie als Nächstes tun werden, sie errät Gedanken und Gründe, auch diejenigen, die man niemandem zu erzählen wagt. Sie ist nicht mehr die junge Frau, die aus Anatolien in die Heimstraße gekommen ist, um dort zu staunen, wie verschieden die Menschen sind, wie sie lügen und sich verbiegen, wie doppelzüngig und hinterlistig sie sein können, wie sie einem etwas vorgaukeln wollen, als gäbe es nur eine Bühne und nichts dahinter.
    Doch wenn Gül Ceyda verstohlen von der Seite ansieht und sich fragt, was die geheimen Gedanken in ihrem Kopf sein mögen, weiß sie es so wenig, dass sie fast augenblicklich das Gefühl bekommt, eine schlechte Mutter zu sein.
    – Ceyda, sagt sie also frei heraus, nachdem sie ihre Tochter von der Arbeit abgeholt hat, Ceyda, gibt es jemanden, den du kennst oder kennenlernen möchtest?
    Sie schaut weg, damit Ceyda sich nicht fühlt, als würde sie geprüft werden. Ihr Blick wandert zur stillgelegten Fabrik, zu der Stelle am Zaun, an der sie immer gestanden hat.
    – Nein, sagt Ceyda, es gibt niemanden.
    – Ich werde niemandem davon erzählen. Es ist normal, dass du dich für gewisse Dinge interessierst, es ist einfach das Alter. Ich war auch nicht anders, aber meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen. Es waren andere Zeiten.
    Und es war nicht meine Mutter. Das sagt sie nicht. Sie |185| glaubt ja auch nicht, dass ihre eigene Mutter mit ihr darüber gesprochen hätte. Ceyda schweigt, und das Einzige, was Gül spürt, ist, dass ihre Tochter nun gerne rauchen würde. Aber selbst wenn Gül es ihr anböte, sie würde es nicht tun in Gegenwart ihrer Mutter.
    – Die wenigen Männer, die bis jetzt gekommen sind, wolltest du nicht. Aber sollte es einen geben, würde ich dir gerne helfen. Du bist noch jung, niemand drängt dich, du kannst noch Dutzende Männer abweisen und erst in zwei, drei, vier Jahren heiraten. Du kannst auch noch mal zur Schule gehen.
    Das sagt Gül, obwohl sie nicht weiß, wie sie das Fuat erklären sollte, aber es wird sich schon ein Weg finden, es findet sich immer ein Weg.
    – Du kannst studieren an der Universität. Wenn du möchtest.
    Ceyda nickt, sagt aber nichts. Vielleicht würde sie ihrer Mutter gerne erzählen von ihrem Entschluss, keinen zu heiraten, der trinkt, vielleicht hindert sie nur die Furcht, ihre Mutter könnte das als Vorwurf auffassen.
    Drei Wochen nach diesem Gespräch kommt ein weiterer junger Mann mit seiner Familie. Adem ist zweiundzwanzig Jahre alt, hat eine Ausbildung als Maschinenschlosser und arbeitet in einer Fabrik, die Zigarettenautomaten herstellt. Er ist lang und dünn, seine Familie kommt aus derselben Provinz wie die Yolcus, man hat gemeinsame Bekannte. Adem scheint nicht schüchtern zu sein, aber er ist auch nicht redselig, sondern sieht Ceyda mit mehr oder weniger interessierten Blicken an. Sein Vater behauptet, er habe keine schlechten Angewohnheiten.
    – Er raucht nicht mal, sagt er, während Adem gerade auf der Toilette ist. Wirklich. Die jungen Leute tun es ja alle heimlich, seine beiden jüngeren Brüder qualmen und glauben, ich wüsste es nicht, aber Adem hat an diesen Sachen wohl keinen Geschmack gefunden.
    |186| Irgendetwas an diesem Adem gefällt Gül nicht. So als hätte sie schon mal von ihm geträumt und ihn nicht gemocht.
    Es fühlt sich an, als hätte sie plötzlich Blei im Magen, als Ceyda am nächsten Tag sagt, dass sie Adem gerne heiraten würde.
    Warum?, fragt Gül sich. Weil er nicht trinkt? Weil sie weg von zu Hause möchte, wo ihr Vater jeden Tag etwas zu meckern hat? Weil sie zu viele von diesen Filmen gesehen hat? Weil er nicht spielt? Weil er still wirkt?
    – Bist du dir sicher?, fragt sie ihre Tochter. Ihr fällt ein, was ihr Vater damals zu ihr gesagt hatte: Ich werde dir einen schmieden müssen. Du hast an allen etwas auszusetzen.
    Wenn sie doch Ceyda einen schmieden könnte, Ceyda,

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