Heimstrasse 52
zwar zwei Wochen lang, Gesine etwas Türkisch beizubringen, damit sie die Filme besser mit ihrer Freundin teilen kann, doch sie merkt schnell, dass sie nicht erklären kann, wie diese Sprache funktioniert, und Gesine ist erschrocken darüber, dass sie sich diese Vokabeln einfach nicht merken kann, obwohl sie mit englischen Worten kein Problem hat.
Danke
,
bitte
, die Namen einiger Gerichte,
gut
und
ich bin satt
, mehr wird nach zwei Wochen täglichen Unterrichts nicht übrigbleiben, und Ceren muss sich die Filme mit ihrer Schwester oder den Nachbarskindern ansehen. Es dauert manchmal Wochen, bis der Metzger die Filme zurückbekommt, da die Kassetten in der Straße weitergegeben werden. Jeder sagt Bescheid, dass er nun diesen oder jenen Film hat, und der Metzger notiert es auf einer speckigen Karteikarte und kassiert die Leihgebühr.
– So ist die Technologie, sie schreitet fort, immer weiter, sagt Fuat, denk mal an die Jahre, in denen wir hier nach dem Brüllen des MGM-Löwen kein Wort mehr verstanden haben. Denk mal an die hektischen Samstagvormittage, wenn der
Brief aus der Türkei
im Fernsehen kam, kaum länger als ein richtiger Brief. Vorbei die Tage, an denen wir uns
Ehen vor Gericht
angesehen haben, weil sonst nichts anderes lief, wo wir unsere Zeit mit dem Streit von Mann und Frau um Geld und Kinder, mit Beschuldigungen, Verrat und Untreue der Deutschen vergeudeten. Jetzt können wir selber entscheiden, was auf dem Bildschirm kommt. Die Technologie schreitet fort, bald wird man überall gleichzeitig leben können, auf |180| Knopfdruck wird alles zu dir ins Wohnzimmer kommen, alle Filme aus der ganzen Welt, alle Zeitungen, bald wird es alles geben, sie verschiffen es oder schicken es mit Lastern. Bald, du wirst nicht mehr denken: Ach, hätte ich doch dies oder das. Wie damals: Ach, gäbe es doch Auberginen, gäbe es doch türkische Zeitungen, gäbe es doch Hammelfleisch.
Bald wird es
gibt es nicht
nicht mehr geben.
Fülle, das beschert die Technologie dem Menschen, Fülle und Komfort. So wie wir jetzt auf dem Weg in die Türkei nicht mehr schwitzen, weil der Wagen eine Klimaanlage hat. Jeden Tag erfinden sie etwas Neues, behütet wie Augäpfel mögen sie sein, diese Deutschen und Amerikaner und Japaner, sie werden die ganze Welt verändern.
An den Wochenenden sitzt man gemeinsam in einem Wohnzimmer, ein, zwei, drei Familien, Erwachsene, Jugendliche, Kinder, es gibt Gebäck und Tee, Cola und Fanta, es gibt Sonnenblumen- und Kürbiskerne, geröstete Kichererbsen, und es gibt Gespräche. Während die Filme laufen, unterhält man sich. Wenn das Thema interessanter wird, verfolgen nur noch die Kinder, die in einem Halbkreis auf dem Boden direkt vor dem Fernseher sitzen, den Film. Die anderen verlieren sich in einer Unterhaltung über Südostanatolien, Mitgift, türkische Geschichte oder auch nur in Klatsch und Tratsch über die Schauspieler oder abwesende Nachbarn. Wenn eine spannende Stelle kommt oder ein gelungener Witz, sind alle wieder gebannt, doch schon bald gleiten sie in die Gespräche zurück, und die Frau des Hauses achtet darauf, dass die Teegläser und die kleinen Kristallschüsseln mit den Knabbereien nicht leer bleiben. Da die Filme sowieso die Straße hoch und runter wandern, verpasst letztlich niemand eine Szene.
Mit den Filmen ändert sich die Sprache der Kinder, bald fluchen sie alle wie Kemal Sunal. Nicht die Art Flüche, die gleich Frau und Familie beleidigen, die Art Flüche, die man |181| nur in den Mund nimmt, wenn man nicht zurückschreckt vor einer Schlägerei, sondern solche, die hauptsächlich aus Tiernamen bestehen. Tiere, die man meist in einem Stall finden kann, Tiere, die offensichtlich der Verachtung wert sind, da sie sich haben domestizieren lassen. Die Kinder rufen sich gegenseitig
Ochsen
und
Söhne von Eseln
und kugeln sich dabei vor Lachen, weil sie verbotene Worte aussprechen und die Lacher aus den Filmen noch in ihnen nachklingen.
Damals hat das Radio des Schmieds das Leben verändert, an den Sommerabenden hatten alle vor ihren Häusern gesessen und dem Klang des Lautsprechers auf dem Dach des Schmieds gelauscht. Es hatte lange gedauert, bis Gül begriffen hatte, dass in dem Kasten, den ihr Vater mitgebracht hatte, keine kleinen Menschen eine Art Theater spielten.
Die Kinder heute wachsen ganz anders auf, selbst die, die noch nicht in der Schule sind, können die Recorder bedienen und wissen, dass im Fernseher niemand wohnt. Wie schnell hat sich alles geändert, so
Weitere Kostenlose Bücher