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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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bei uns mitessen?, hat Gesine wohl gefragt, während Ceren nebenan saß und alles hören konnte. Ich esse immer bei denen, wenn ich dort bin.
    – Gesine, habe die Mutter gesagt, das habe ich dir schon mal erklärt. Cerens Eltern sind Doppelverdiener.
    Und Gesine hat geantwortet:
    – Nein, sind sie nicht mehr. Cerens Mutter ist arbeitslos, und ich darf trotzdem immer bei denen essen.
    – Aber sie bekommt noch Geld vom Arbeitsamt, habe die Mutter entgegnet.
    Wie Gül es auch betrachtet, sie kann es nicht verstehen und muss sich mit der dürftigen Erklärung begnügen, die sie ihrer Tochter gegeben hat. Als Freundin Cerens ist Gesine so etwas wie ein Kind des Hauses. Deshalb muss es umgekehrt nicht auch so sein.
    Aber nicht mal einem Fremden würde sie einen Platz am Tisch verweigern. Wo zwei satt werden, werden auch drei satt, hat sie selber gelernt, doch das scheint in diesem Land anders.
    Und dieser Bruder, hoffentlich hat die Mutter den unter Kontrolle, nicht dass er sich auch ihrer Tochter nackt zeigt.
    Ceren gegenüber verliert sie kein Wort über ihre Befürchtungen, |175| sondern versucht ihr lieber bei anderen Gelegenheiten einzuschärfen, was gut und was richtig ist.
    Gül schätzt Cerens Vertrauen, und sie ist froh über diese neue Intimität. Gleichzeitig bemüht sie sich, Ceyda mehr Aufmerksamkeit zu schenken; damit sie nicht eifersüchtig wird, fragt sie jeden Abend, wie es auf der Arbeit war, und versucht an diese Frage ein langes Gespräch anzuknüpfen. Sie steckt ihr Feuerzeuge zu und häkelt und strickt für ihre Aussteuer.
    Ceyda war seit jeher verschlossener als Ceren, und Gül muss sich an ihre eigenen Worte erinnern: Man muss jeden Menschen so akzeptieren, wie er ist.
    Die Kinder kommen durch uns, aber nicht von uns, und sie sind kein Malbuch, das man mit seinen Lieblingsfarben füllen kann.
    Ich liebe nicht eine mehr und die andere weniger, Gott ist mein Zeuge, ich liebe, wie mein Herz es zulässt.
    Wären die Mädchen nicht, Fuats Worte würden schärfer schneiden.
     
    So wie der Schmied damals der Erste im Viertel war, der ein Radio hatte, so ist Fuat der Erste in der Heimstraße, der einen Videorecorder kauft. Doch anders als bei seinem Schwiegervater ist es nicht so, dass sich die Familie plötzlich nicht mehr vor Besuch retten kann. Die Nachbarn kommen zwar, und sie schauen, staunen, bewundern, doch nur Tage oder höchstens Wochen später kauft nahezu jeder so ein Gerät. Der Schmied war seinerzeit wohlhabend, hier arbeiten alle in derselben Fabrik.
    Binnen Monaten kursieren Kassetten, der türkische Metzger, der nebenbei Obst und Gemüse verkauft, hat auf einmal hinter der Kasse zahlreiche Videos zum Verleih.
    Niemand in der Heimstraße schaltet mehr den Fernseher ein, um eines der deutschen Programme zu verfolgen.
    Früher, in einem anderen Leben, haben sie alle im Kino |176| Humphrey Bogart gesehen, Cary Grant, Ava Gardner, Kirk Douglas, Bette Davis, Gina Lollobrigida, Elizabeth Taylor, Robert Mitchum. Natürlich gab es damals auch Erol Taş, Fatma Girik, Filiz Akın, Ayhan Işık, doch es waren die amerikanischen Filme, die vor fast zwanzig Jahren ihre Wünsche nährten, ihre Vorstellungen von anderen Ländern und besseren Zeiten. Filme, die Fuat danach streben ließen, endlich selbst Whisky zu trinken und ihn nicht nur schwarzweiß auf der Leinwand zu sehen, ohne ihn auch nur riechen zu können. Filme, die Saniye zu der Ansicht verleiteten, in Europa würde man sich zu jeder Gelegenheit in Schuhen aufs Bett schmeißen. Filme, die wie alle Geschichten glauben machten, es gäbe noch eine andere Welt, in der sich das Leben anders anfühlte als jenes, das sie kannten. Ein Leben, in dem selbst ihre Herzen anders schlagen würden, kräftiger, glücklicher, heiterer, ein Leben, das größer war als eins, in dem es Sorgen gab, Kummer, Trauer und Alltag.
    Was sie auf die Suche geschickt hatte, war nicht nur die Not, sondern auch die Sehnsucht nach diesem anderen Leben, das in Greifweite schien, immer in Greifweite, wieso sollten sonst andere davon erzählen können.
    Das Kino hatte vor zwanzig Jahren ihre Träume genährt, hatte sie getränkt mit Vorstellungen, hatte zu Neid beigetragen und dazu, dass die Welt kleiner schien.
    Als Filmrolle war es nicht schwer, über den Ozean zu kommen, die Wege schienen offen.
    Nun sitzen Familien abends vor dem Fernseher, an den Wochenenden schauen sie fünf oder sechs Filme hintereinander, es ist kein Vergleich zu den Doppelvorstellungen damals im Kino,

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