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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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fühlt sich einfach nicht so an.
    Es vergehen Stunden, ohne dass sie sich bewegt, sie schaut nach draußen und nimmt nicht mal wahr, wie sich das Licht im Garten ändert. Als Saniyes Gesicht hinter dem Fenster auftaucht, registriert sie zwar die Bewegung, realisiert aber nicht, wer das ist. Das Bild ist wie ein weiterer Gedanke, der in ihrem Kopf auftaucht, ohne dass sie etwas dafür tun muss. Erst als Saniye winkt, kommt Gül zurück in die Küche, zurück auf die Couch, zurück in ihren Körper, erkennt ihre Freundin und sieht den jungen Mann neben ihr. Während sie aufsteht, schaut sie auf die Uhr, noch eine halbe Stunde, bis Fuat von der Arbeit kommt. Dann öffnet sie den beiden die Tür.
    Saniyes Augen sind rot und geschwollen, aber ihr ganzes Gesicht lacht, den Mann hat Gül nie zuvor gesehen, doch er kommt ihr vage bekannt vor. Noch vor dem ersten Wort bricht Saniye in Tränen aus und umarmt Gül, während der junge Mann verlegen lächelt.
    – Eine Freudenbotschaft, sagt Saniye, als sie sich, Schluchzer unterdrückend, aus der Umarmung löst. Sie zieht die Nase hoch und wischt die Tränen fort. Weißt du, wer das ist?
    – Dein Sohn, sagt Gül, ohne nachzudenken und ohne selber zu begreifen, was sie sagt.
Dein Sohn
, das sind einfach die Worte, die aus ihrem Mund kommen. Und erst als sie Klang geworden sind, beginnt Gül zu erfassen, was sie bedeuten.
    – Mein Sohn, sagt Saniye.
    – Dein Sohn, sagt Gül und sieht den Mann an, der in Ceydas Alter sein mag, doch er wirkt viel reifer als ihre Tochter. Sie umarmt ihn und küsst ihn auf die Wangen.
    – Ufuk, sagt sie, Ufuk, du hast das Herz deiner Mutter erleichtert, Gott möge es dir vergelten, kommt rein, kommt rein. Ich koche uns einen Tee.
    – Es war wie in den Filmen, sagt Saniye, als sie sitzen, es hat |190| an der Tür geklingelt, und ich habe aufgemacht, wir haben uns angesehen, und es war, als würde die Musik mit einem Mal aufhören. Ufuk?, habe ich gesagt, und er hat gesagt: Mutter? Und dann wurden meine Knie weich, ich musste mich am Türrahmen festhalten, ich habe gedacht, ich falle in Ohnmacht. Er sieht genauso aus, wie mein Mann aussah, als wir geheiratet haben. Mir ist schwindelig geworden, und ich dachte, da ist kein Boden mehr, kein Grund. Dann hat Ufuk mich umarmt, und ich habe einfach losgelassen.
    Wenn man einschläft, hat man doch manchmal das Gefühl, man fällt, so ähnlich war es, nur dass ich nicht aufgeschreckt bin. Dem Herrn seis gedankt, Tausende Male gedankt, dass ich das erleben durfte.
    Gül hat Tränen in den Augen.
    – Gott möge dich segnen, sagt sie zu Ufuk, wer weiß, was du alles auf dich genommen hast, um hierherzukommen. Mögen deine Hände und Füße kein Leid erfahren.
    Später erzählt Ufuk mit einer Stimme, die zwar hell und jung ist, aber dennoch erwachsen klingt, wie er bei seinen Großeltern aufgewachsen ist, wie er erst erfahren hat, was damals passiert ist, als er bereits zwölf war. Wie er ausgerissen ist, weil er den Großvater im Gefängnis besuchen wollte, wie er den alten Mann tatsächlich gefunden und gesprochen hat, einige Tage bevor dieser gestorben ist. Wie seine Großeltern ihn bestraft haben, weil er mit dem Mörder seines Vater gesprochen hat. Wie sehr er sich all die Zeit nach seiner Mutter gesehnt hat, wie groß der Wunsch war, sie zu sehen, wie gleichgültig ihm war, was seine Großeltern sagten, dass sie die Tochter eines Mörders ist und wahrscheinlich eine Hure geworden. Hure oder nicht, sie ist meine Mutter, hatte er gesagt, und nichts und niemand wird mich stoppen, ich werde nach Deutschland fahren und sie finden.
    Während sein Tee kalt wird, erzählt er, wie er mit einem LKW-Fahrer mitgefahren ist, der eine Fracht für Deutschland |191| hatte, wie er sich die ganze Fahrt lang vorgestellt hat, er würde bald vor der Tür seiner Mutter stehen, die Frau sehen, die ihn geboren hat. Wie er Angst bekommen hat, als er vor ihrer Tür stand, Angst so groß, dass er am liebsten sofort kehrtgemacht hätte, wie er, noch während er klingelte, gedacht hat, er könnte sich als jemand anders ausgeben. Wie er nicht mal seinem ärgsten Feind eine solche Trennung wünsche.
    Immer wieder wischt Gül sich die Tränen aus den Augen, während Ufuk redet.
    All ihre Sorgen sind fort, sie lässt sich rühren von einer Geschichte, die von anderem Kummer erzählt, einem Kummer, der ihrem Herzen gerade so nahe ist, als hätte er schon immer auch dort gewohnt.
    – Was hat Yılmaz denn gesagt?, fragt sie.
    –

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