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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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Gesine nicht mehr sehen und deine anderen Freundinnen, du wirst in eine neue Schule kommen, wirst neue Freunde finden müssen, wirst deine Schwester nicht mehr so oft sehen, es wird bestimmt nicht leicht, sich umzugewöhnen. Überleg es dir gut.
    In der Türkei wird es nicht anders sein als hier, wo fast nur Türken in der Straße wohnen, mag Ceren denken, nur dass in den Läden und in der Schule auch Türkisch gesprochen wird. Gül stellt sich vor, dass die Umgewöhnung für sie selber nicht schwer werden wird, schließlich ist sie dort aufgewachsen, sie stellt sich vor, dass ein gemeinsames Leben leichter ist als eines alleine, dass sie wie früher jeden Tag ihren Vater sehen wird, seinen Schweiß riechen und seine Stoppeln spüren.
    Manchmal versucht man, in die Zukunft zu blicken, und sie wirkt wie ein Berg, den man nicht erklimmen kann, und manchmal wirkt sie wie ein Weg, der für einen bereitet worden ist. Doch nie ist sie so, wie es scheint.
    Ceren beteuert in den nächsten Tagen immer wieder, dass |197| sie gerne in die Türkei möchte, während Gül nicht müde wird, ihre Bedenken zu wiederholen. Vier Wochen nachdem sie das erste Mal darüber gesprochen haben, beschließen die beiden, aus Deutschland wegzugehen. Nicht jetzt, mitten im Schuljahr, sondern in den Sommerferien, was für Ceren bedeutet, dass sie fast drei Monate freihaben wird. So wird ihr Leben in der Türkei beginnen, indem sie genauso lange Schulferien hat wie die Schüler dort.
     
    – Zurück in die Heimat, sagt Serter, zurück in die Heimat. Möge Gottes Segen mit euch sein. Diesen Weg gibt es für mich nicht mehr.
    Gül hat ihn zufällig beim Gemüsehändler getroffen, in der Hand hält er eine Dose mit weißen Bohnen und dreht und wendet sie, als könnte irgendwo ein Hinweis darauf sein, dass gerade diese Dose vergiftet ist.
    – Sprich doch nicht so, sagt Gül, wer weiß schon, was alles geschieht. Vielleicht ist es dir auch beschieden.
    – Es geht nicht um beschieden, sagt Serter, es geht darum, dass dort kein Glück mehr für mich ist. Schau mal, sagt er und stellt die Dose zurück ins Regal, schau mal, wir gehören hier nicht dazu. Schon seit Jahren schmieden sie Pläne, wie sie uns loswerden können. Und jetzt haben sie diese Rückkehrerhilfe, wer freiwillig geht, hat es gut, aber danach werden sie zu härteren Mitteln greifen. Die haben Angst vor uns, das habe ich dir schon mal gesagt.
    – Aber du hast auch gesagt, du würdest zurückkehren in die Türkei.
    – Ja, sagt er, das ist ein Wahn, in dem ich gelebt habe. Aber nüchtern betrachtet, ist es doch so: Du kehrst zurück zu deinesgleichen, aber mich halten die Leute für verrückt, ich habe keinen Ort mehr, zu dem ich gehöre. Solange ich Ausländer in diesem Land bin, ist das normal, doch wenn ich zurückgehe dorthin, wo ich einen Platz haben müsste, aber ihn auch nicht |198| habe, dann werde ich Depressionen bekommen, hörst du, Depressionen. Das kann sich jeder ausrechnen, der etwas von menschlicher Psychologie versteht. In Deutschland gehört es zu meinem Leben dazu, dass ich nicht erwünscht bin, aber in der Türkei würde es mich in eine Dunkelheit stürzen, die auch Gottes Stimme nur schwer erhellen kann. Dieser Weg steht nicht mehr offen für einen, den alle für verrückt halten.
    – Und was willst du machen, wenn sie hier tatsächlich zu härteren Mitteln greifen?, fragt Gül. Nicht weil sie daran glaubt, sondern weil sie nicht weiß, was sie sonst sagen soll.
    – Ich bin gut vorbereitet, sagt Serter. Wie, das kann ich dir nicht verraten. Aber Mevlüde, diese durchtriebene Frau, hat es nicht geschafft, mich zu vergiften, all die Gegner Gottes, die nach meinem Leben trachten, sind gescheitert. Ich werde mich nicht von den Deutschen kleinkriegen lassen. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.
    Auf dem Heimweg denkt Gül darüber nach, ob Serter der einsamste Mensch ist, den sie kennt. Und ob er sich selber auch einsam fühlt oder ob ihm die Nähe Gottes reicht. Sie fragt sich, was der arme Mann denn tun könnte und warum der Herr ihn so bestraft. Ohne Heimat und ohne Familie zu sein, etwas Schlimmeres kann sie sich gar nicht vorstellen.
     
    Eine Woche bevor Gül, Fuat und Ceren ins Flugzeug steigen, stirbt Tante Tanja. Sie wacht einfach eines Morgens nicht mehr auf. Alle Bewohner der Heimstraße, die noch nicht in den Urlaub gefahren sind, gehen zur Beerdigung. Für fast alle von ihnen ist es die erste christliche Beerdigung, bei der sie zugegen sind. Sie

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