Heimstrasse 52
diesen Breiten.
– Als ich sie schmieren wollte, wollten sie nicht, sagt Fuat. Sie haben uns schmoren lassen an dieser Grenze, fertig, wie wir waren, sie haben sogar die Radkappen abgenommen und geschaut, ob dort nicht noch ein Fernseher versteckt ist, ein Radio oder ein Sparstrumpf. Und jetzt will ich nicht mehr. Es ist unser Recht, verdammt. Keinen Pfennig bekommen die von mir, die müssen den Lastwagen fahren lassen. Wollen wir doch mal sehen, wer hier sturer ist.
Ceyda und Adem sind bei Adems Großeltern auf dem Dorf, Ceren verbringt ihre Tage in den Gärten der Sommerhäuser und schläft meistens bei ihren Großeltern. Während früher alle Kinder der Straße gemeinsam gespielt haben, teilen sie |202| sich nun in Jungen und Mädchen auf und kommen höchstens abends zusammen, um auf der Straße Volleyball oder Völkerball zu spielen, während die Erwachsenen auf den Stufen vor ihren Häusern sitzen, Sonnenblumenkerne knabbern und sich damit begnügen zuzuschauen. Bis auf Melike, die zumindest beim Volleyball immer mitspielt. Die Jugendlichen haben nicht nur Respekt vor ihr, weil sie deutlich älter ist, sondern auch weil sie eine der besten und ehrgeizigsten Spielerinnen ist, die so leicht keinen Ball verloren gibt.
Ceren ist nun in dem Alter, in dem ihre Mutter geheiratet hat. Wenn sie in diesem Sommer gemeinsam Fotoromane lesen, betrachtet sie ihre Freundinnen aus den Sommerhäusern nun mit ganz anderen Augen, weil sie weiß, dass sie sie das ganze Jahr über sehen wird.
Sie hat schon Winter in dieser Stadt erlebt, aber da war sie noch so klein, dass sie sich nicht mehr erinnern kann. Mit ihren Freundinnen sitzt sie im Schatten der Bäume in entlegenen Ecken der Gärten, raucht Zigaretten, klaut Äpfel, Aprikosen und Birnen, doch immer ist ihr nach Weinen zumute, ohne dass sie verstehen würde, warum das so ist.
Tante Tanja hätte sie sowieso nie wiedergesehen und viele andere ebenfalls nicht. Nachdem die Fabrik zugemacht hatte, waren die meisten Familien aus der Heimstraße weggezogen, auch ihr Vater hat nun das Haus aufgegeben und wird nach Bremen ziehen. Sie weiß nicht, wem oder was sie hinterherweinen sollte außer Gesine. Hat sie nicht in Deutschland genau das Gleiche getan wie hier? Nur dass die Gärten kleiner waren und das Wetter kälter, nur dass sie zur Schule musste und ihren Opa nicht gesehen hat, ihren Opa, der sie nun fast täglich umarmt, seine Nase an ihren Hals legt und sagt: Obwohl du dunkel bist wie deine Oma, riechst du ein bisschen wie deine Mutter, als sie noch jung war.
Bis auf Melike sind alle Kinder des Schmieds hellhäutig wie er selbst. Ceren ist seine einzige Enkelin, deren Haut fast denselben |203| zimtstaubfarbenen Ton hat wie die ihrer Tante Melike und die ihrer Großmutter, die sie nie kennengelernt hat.
Die Wochen vergehen mit Zigaretten in den Gärten, mit Telefonaten mit dem Zollamt, mit Sonne und Schweiß, mit dem Einkochen von Kirschmarmelade, mit abendlichen Ballspielen auf der Straße, mit Gesprächen, Koseworten und liebevollen Neckereien, mit Späßen und kleinen Schnittwunden vom Gemüseschneiden, mit Nickerchen in der Mittagshitze und einem oder mehreren Gläsern in der Kühle nach der Abenddämmerung, mit selbstgemachtem Popcorn vor dem Fernseher und Sezen-Aksu-Liedern aus dem Radio.
Fuat tobt fast jeden Tag, und gegen Ende seines Urlaubs muss er einsehen, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als die Sache mit einigen Scheinen zu klären, wenn er nicht möchte, dass seine Frau noch lange in einer leeren Wohnung sitzt.
Gül ist viel gelassener. Es ist nicht mehr wie in ihren ersten Tagen in Deutschland, als sie in der kleinen Küche saß und Fuat nebenan schlief. Nun sitzt sie in ihren eigenen vier Wänden, und wenn ihr Vater sie besuchen kommt, stellt sie ihm einen der Plastikteller, die sie gekauft hat, auf einen Hocker und serviert ihm Essen aus den beiden Töpfen, die ihr die Nachbarin geliehen hat.
– Dem Herrn seis gedankt, sagt sie. Hatten wir früher etwa einen Kühlschrank und war da das Leben etwa schlechter?
– Mögen die Hände, die das gekocht haben, kein Leid erfahren, sagt der Schmied, es ist köstlich geworden, wo hast du das nur gelernt, von Arzu sicherlich nicht, du kochst wie deine selige Mutter. Aber ein Kühlschrank, fügt er hinzu, ein Kühlschrank macht das Leben viel einfacher.
In der Stadt gibt es schon lange Strom, aber erst in den letzten Jahren haben sie in den Sommerhäusern Elektrizität bekommen, und in allen
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