Heimstrasse 52
dafür sind wir damals nicht hierhergekommen. Ein Gehalt und drei Mäuler, da können wir keine Sprünge machen, geschweige denn unsere Zukunft in der Türkei sichern.
Gül sitzt in der Küche und fragt sich, was sie tun soll. Vielleicht nervt es Fuat, dass er jeden Tag zur Arbeit muss, während sie zu Hause sein kann. Vielleicht mag er seine Arbeit nicht. Vielleicht geht es wirklich um das Geld.
Doch was Gül auch versucht, sie kann keine Arbeit finden.
Einige Familien aus der Heimstraße haben die Hilfe für Rückkehrer in Anspruch genommen und sind zurück in die Türkei gezogen. Vielleicht sollten sie es auch so machen.
Fuat sitzt kaum noch an Spieltischen, und die Summe, die er wöchentlich für Lottoscheine ausgibt, hält sich in Grenzen, doch noch immer ist da der Traum vom Reichtum, der das Ende der Sorgen bedeutet.
Es ist viel Geld, was die Deutschen einem zahlen, wenn man verspricht, nicht nach Deutschland zurückzukommen, und eines Abends, noch bevor der Streit richtig beginnen kann, sagt Gül:
– Ich habe nachgedacht, weißt du?
– Was hast du gedacht? Dass du eine Arbeit kriegst, indem du zu Hause rumsitzt?
– Nein. Wir sind schon so lange hier. Wir haben ein fertiges Haus in der Türkei, wir haben Felder und ein Grundstück. Warum sollen wir uns hier weiter abrackern? Es ist doch alles da. Vielleicht sollten wir auch diese Rückkehrerhilfe beantragen. Das ist viel Geld, damit könnten wir …
Fuat unterbricht sie:
– … könnten wir den ganzen Tag zu Hause rumsitzen, weil es dort keine Arbeit gibt. Wie viel Jahre würde das Geld reichen, drei, vier, fünf? Und selbst wenn ich Arbeit hätte, dort verdienst du fast nichts. Ich bin doch nicht blöd und lasse einen Job bei Mercedes sausen, nur weil meine Frau in |195| Deutschland keine Arbeit findet und mit eingezogenem Schwanz zurück nach Hause möchte. Da hast du dich aber geschnitten. Was ihr Weiber immer für Ideen habt. Ich kündige eine gute Arbeit, um zu Hause in der Türkei in meinem Haus Däumchen und Pfennige zu drehen. Leuchtet dir das ein, sag selbst! Du kannst ja gerne gehen, wenn du möchtest.
Gül schaut ihn an.
– Kommst du dann nach?
– Ja, sagt Fuat, ich komme dann nach.
Er sieht sie nicht an dabei, und Gül zieht es vor, die Worte zu hören und nicht den Ton, in dem er sie sagt.
Ceren und ihre Mutter sitzen immer öfter gemeinsam auf der Couch in der Küche, Bein an Bein, Ceren lehnt sich gegen Gül, lässt sich in den Arm nehmen, legt ihre Hand auf den Oberschenkel ihrer Mutter. Sie erzählt von der Schule, von Gesine, wie sie sich fühlt ohne ihre Schwester, was sie geträumt hat, einen Witz, den sie neulich gehört hat, von dem heftigen Wind letzte Nacht, von kleinen Dingen, die das ganze Leben füllen, weil sie immer da sind. Gül hingegen spricht von Vergangenem, von den Augen ihrer Großmutter, die immer schlechter wurden, bis sie schließlich erblindete und trotzdem jeden am Klang seiner Schritte erkannte und sogar wusste, wenn Gül zugenommen hatte. Ihre Großmutter, die zunächst viel auszusetzen gehabt hatte an ihrer ersten Schwiegertochter Fatma, Güls leiblicher Mutter, bis der Schmied auf die Idee gekommen war, hinter geschlossenen Türen seine Frau zum Schein zu schlagen, wodurch sich die Eifersucht seiner Mutter gelegt hatte. Gül erzählt von ihrem Vater, der immer sagte, seine erste Frau sei schön wie ein Stück vom Mond gewesen, und der sich nach einem Besuch auf dem Friedhof gewünscht hatte, seine jetzige Frau und seine verstorbene würden mal die Plätze tauschen.
In den Stunden auf dem Sofa wird für Ceren eine Welt lebendig, |196| die sie nie erlebt hat. Vor Hintergründe, die sie kennt, das Sommerhaus, das Haus in der Stadt, den Friedhof, schieben sich Farben und Klänge und Ereignisse aus dem Mund ihrer Mutter. Es entstehen Landschaften, die außerhalb der Zeit existieren, Orte, die man immer bereisen kann.
Manchmal sitzen sie einfach nebeneinander, wortlos, die Wärme der einen vermischt sich mit der Wärme der anderen, zwei Gerüche verschmelzen, Frieden und Behaglichkeit werden eins, und statt der Worte verbindet die Stille.
Und in diese Stille hinein sagt Gül eines Tages: – Möchtest du mit mir in die Türkei gehen?
Das Land aus den Erzählungen, Türkei, die Zeit, die sechs Wochen währt, Türkei, eine einzige Jahreszeit und so viele Farben in Cerens Kopf, wie nicht mal der große Pelikan-Malkasten hatte.
– Ja, sagt sie, ohne zu zögern. Ja, Mama.
– Dann wirst du
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