Heimstrasse 52
haben schon einige im Fernsehen gesehen, aber hier herrscht strahlender Sonnenschein, die Anzüge sitzen nicht so gut, und es scheint sehr viele Schattierungen zwischen Schwarz und Dunkelblau zu geben. Die Tränen sind echt und der Gram in den Gesichtern nicht geschminkt.
Für Ceren ist es die erste Beerdigung überhaupt, und sie |199| wundert sich, dass auf diesem gepflegten Friedhof voller Blumen und Lichter und schnurgerader Wege tatsächlich Tote liegen. Die Toten gehören in ihrer Vorstellung auf einen Friedhof wie den, auf dem ihre Großmutter begraben ist. Ein chaotisches Gewirr, wo einfache Felsbrocken als Grabsteine dienen, ein Friedhof, bei dem man an der Größe der Gräber erkennen kann, wo Kinder liegen, ein Friedhof, auf dem man achtgeben muss, dass man nicht unabsichtlich auf ein Grab tritt und damit die Toten entehrt. Ein Friedhof, auf dem man Angst hat.
Hier ist alles akkurat geordnet, als wollte man den Tod in seine Schranken verweisen.
Ceren denkt an den Tag, als das Auto sie angefahren hatte und ihre Mutter mit Tante Tanja ins Krankenhaus gekommen ist. Sie erinnert sich, wie Tante Tanja hinter ihnen Wasser auf die Straße geschüttet hat. Wie sie den Kindern Schokoladenriegel gegeben hat und wie sie Silvester auf ihren Stock gestützt im Vorgarten stand und lächelnd die türkischen Worte
nice yıllara
wiederholte. Sie weint am Grab, sie weint, aber sie denkt: Ob sie tot ist oder nicht, Tante Tanja hätte ich sowieso nicht wiedergesehen.
Gesine wird sie eines Tages noch einmal sehen, da ist sie sich sicher.
Zwei Tage nach der Beerdigung fliegen alle gemeinsam in die Türkei, und es sieht so aus, als würden sie in den Urlaub fliegen, Fuat, Gül, Ceren, Adem und Ceyda, die mittlerweile schwanger ist.
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|200| III
– Was für ein verlogenes Volk, was für niederträchtige, geldgierige Menschen, was für Sitten, zetert Fuat, als er aufgelegt hat. Wo sind denn die Männer wie dieser Beamte, der den Hunderter damals nicht nehmen wollte, Männer wie die, die unseren Wagen stundenlang auseinandergenommen haben. Wo sind denn die aufrechten Herren, die ihrem Vaterland dienen? Hat es ein Erdbeben gegeben, hat sich ein Spalt aufgetan, in den sie hineingefallen sind, alle zehn oder zwölf oder wie viel es von denen gibt? Ich verliere hier noch den Verstand, ich muss mich echt bremsen. Bremsen, hörst du?, schreit er nun.
Gül sitzt in der Küche auf einem Stuhl. Es gibt einen Herd, doch keinen Kühlschrank, keine Schränke, keinen Tisch, kein Geschirr, kein Besteck, nur noch einen weiteren Stuhl, und der ist genau wie der andere eine Leihgabe der Nachbarn. Das Wohnzimmer ist ebenso kahl wie das Besucherzimmer. Im Schlafzimmer liegen zwei Matratzen auf dem Boden, im zweiten Schlafzimmer eine für Ceren. Es gibt keine Möbel im Haus, die Worte hallen von den Wänden wider, und niemand kann umhin, sich spätestens abends vor dem Einschlafen verloren zu fühlen. Drei Wochen leben sie nun schon so.
Fuat hatte dem Mieter des Hauses gekündigt, frühzeitig. Und der war auch ausgezogen und hatte alles mitgenommen. Seine Möbel, die Kohleöfen, die ihm ebenso wenig gehörten wie die Wasserhähne. Doch damit nicht genug, er hatte obendrein die Türen ausgehängt und mitgenommen oder verkauft, bevor er mit seiner Frau und seinen Kindern nach Istanbul verschwunden war.
|201| – Wäre er in der Stadt geblieben, hätte ich ihm erlaubt, vor seiner Abreibung Wundsalbe zu kaufen, Verbandszeug und auch Gips, hat Fuat gesagt, aber er hat es ja vorgezogen, zu fliehen wie ein Weib. Die Türen mitnehmen, wo hat man so etwas schon gehört. Möge er ersticken an dem Brot, das er frisst, dieser ehrlose kleine Dieb.
Sie hatten neue Türen bestellen müssen beim Schreiner, und kurz darauf hatte sie die Nachricht erreicht, dass der Lastwagen am Zoll festgehalten wurde, obwohl alle Formalitäten erledigt waren. Der Kühlschrank, die Regale und Schränke, die beiden Fernseher, der Videorecorder, die Couchgarnitur, der Mixer, das Geschirr, die Betten, die Kleider, kurz der gesamte Hausrat ist in dem Lastwagen. Es ist alles geprüft, gestempelt, die Papiere sind in Ordnung, doch Fuat weigert sich, die Hinweise zu verstehen.
Man könnte die Sache beschleunigen, wenn man Beschleuniger hätte. Sie kennen doch sicher eine Lösung für dieses Problem. Sie wissen doch, wie die Lebensbedingungen in diesem Land sind, zumal für Beamte. Mein Sohn wird nächstes Jahr auf die Universität gehen, und Stipendien sind rar gesät in
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