Heimstrasse 52
Wohnzimmern steht seitdem ein Fernseher, in jeder Küche ein Kühlschrank, und im Stall des |204| Schmieds hängt eine nackte Glühbirne von der Decke, damit seine Frau auch nach der Dämmerung noch ohne Druckluftlampe die Kühe melken kann.
Gül ist gelassen. Der Lastwagen fährt los, einige Stunden nachdem die Zöllner ihr Geld bekommen haben. Sie wird dieses Haus einrichten, sie wird ihren Vater jeden Tag sehen, sie wird Ceren morgens zur Schule schicken, Fuat wird zu einer Stimme am Telefon werden, es wird an ihr liegen, dieses Haus mit Frieden zu füllen. Eine Aufgabe, der sie zuversichtlich entgegenblickt.
Da sind alle diese Menschen, und jeden einzelnen könnte sie fragen, und jeder würde ihr weiterhelfen können. Doch Gül geht langsam weiter, merkt, wie ihr heiß wird, von innen heraus, das hat nichts mit der Sonne zu tun, und natürlich fällt ihr der Bauzaun ein, der an einem Freitag noch da gewesen war und am Montag nicht mehr. Sie erinnert sich daran, wie sie sich in Deutschland verlaufen hat, wie fremd ihr alles anfangs vorkam, wie sie nicht genug Deutsch konnte, um nach dem Weg zu fragen. Doch jetzt, hier, wo sie fragen könnte, ist es ihr peinlich, sich verlaufen zu haben. In einer kleinen Stadt, in der es weder Busse noch Bahnen gibt, nur einige Taxen und keine einzige Ampel, in der Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Damals sahen die Straßen doch anders aus, denkt sie, und die Einkäufe in ihren Händen werden mit jedem Schritt schwerer. Warum wollte sie auch den Heimweg abkürzen, welchen Grund gab es, in dieses Gewirr von Gassen abzubiegen?
Gül hat fast keinen Orientierungssinn. In Deutschland konnte sie es zunächst auf die ungewohnte Umgebung schieben, wenn sie sich verlaufen hatte, und später war es nur ein kurzer Fußweg bis zur Fabrik, und längere Strecken hat sie zumindest beim ersten Mal nie allein zurückgelegt. Auch hier, in ihrer Heimatstadt, hat sie in all den vergangenen Sommern |205| kaum einmal die Einkäufe allein erledigt. Wenn nicht Fuat bei ihr war, dann eine ihrer Töchter oder Schwestern.
An der nächsten Ecke biegt Gül einfach rechts ab, und als sie weiter hinten in der Straße ihr Haus sieht, ist sie erleichtert und erheitert. Sie sagt sich, dass es gut war, nicht zu fragen, so nah, wie sie schon war. Wie hätten die Nachbarn wohl reagiert?
Da kommt sie aus dem riesigen Deutschland und verläuft sich in einer Seitenstraße, kaum achtzig Schritte von ihrem Haus entfernt. Die ist wohl so abgehoben, dass für sie hier alles gleich aussieht.
– Stell dir vor, was mir passiert ist, sagt Gül zu Ceren, als diese von der Schule kommt, und berichtet lachend, wie sie sich mit den Einkäufen in den Händen in den Gassen verlaufen hat. Ceren lächelt nicht mal.
– Was ist los?
– Ach, sagt Ceren, die anderen lachen immer über mich, und ich komme mir total dumm vor, weil ich so viele Sachen nicht weiß. Die können alle Sultane auswendig und wann sie gelebt haben, und wir hatten in Geschichte nur den Zweiten Weltkrieg und die Weimarer Republik. Ich wusste heute das Wort für Lineal nicht, ich hatte es noch nie auf Türkisch gehört.
– Ja, sagt Gül und nimmt ihre Tochter in den Arm, und ich habe mich verlaufen, wie am Anfang in Deutschland. Kennst du die Geschichte mit dem Bauzaun? Es ist normal, wir sind in ein anderes Land gezogen, wir müssen ein wenig Geduld haben. Jetzt weißt du, was Lineal heißt, und morgen lernst du wieder etwas Neues.
Ceren drückt sich fest an ihre Mutter, und möglicherweise ist sie den Tränen nahe. Die Körper der beiden sagen: Wir haben uns. Uns kann nichts passieren.
Als sie sich voneinander lösen, wiegt das Leben etwas weniger.
|206| An der Stelle, wo Timurs Schmiede war, ist nun eine Autowerkstatt. Seit einigen Jahren arbeitet der Schmied nicht mehr in seinem Beruf, weil es mittlerweile alles, was er früher gefertigt hat, billiger und ohne Wartezeiten in Regalen gibt.
Genauso wie der Kutscher Faruk, der Vater seines Schwiegersohnes Fuat, ist Timur auf andere Möglichkeiten angewiesen, um sich und seiner Frau zumindest ein geringes Einkommen zu sichern. Er hat Kühe, einen Obstgarten, er spritzt mit einer Flasche auf dem Rücken die Bäume der anderen Obstgartenbesitzer gegen Schädlinge, treibt ein wenig Handel mit Bauern aus den umliegenden Dörfern. Von seinem Reichtum ist nichts geblieben, und er ist wie der Kutscher auf die Hilfe seiner Kinder angewiesen.
Sibel, die als Lehrerin arbeitet, lebt mit ihrem Mann, der
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