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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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einfach weil es süß ist. Möglicherweise schmeckt Fuat der Whisky doch nicht, auch wenn es früher bei Humphrey Bogart immer so aussah, als könnte man ihm nicht widerstehen. Also kippt er unauffällig Zucker hinein. Während es bei Bogart so wirkte, als hätten Männlichkeit und Zivilisation erst mit der Destillation angefangen, bringt Cola den Geschmack von Freiheit und Abenteuer mit sich. Warum sollten diese Getränke also nicht zusammenpassen?
    Mit den leeren Flaschen geht Gül zum Kaufmann an der Ecke und möchte sie zurückgeben.
    – Danke, sagt Hayri, in dessen Laden sich außer Obst und Gemüse und Fleisch fast alles findet. Brot, Waschmittel, Nudeln, Getränke, Süßigkeiten, Kaugummis, Reis, Mehl, Weizengrütze, Spülschwämme, Chlorreiniger, Rattengift, Schafskäse, Joghurt, Zucker, Salz, Pfeffer, Kinderspielzeug.
    |214| Hayri macht keine Anstalten, Gül Geld zu geben, und Gül steht zunächst ein wenig unentschlossen da.
    – Bitte?, sagt der Händler.
    – Das Pfand, antwortet Gül zögerlich.
    – Was denn für ein Pfand? Warum sollte ich denn von dir Pfand nehmen, Gül, du kaufst fast jeden Tag bei mir ein. Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?
    Er lacht.
    – Aber ich habe Pfand bezahlt für die Flaschen, sagt Gül.
    – Dann bring sie dahin zurück, wo sie dir den Pfand abgenommen haben.
    – Du hast mir Pfand berechnet.
    – Gül, ich habe es schon gesagt, jeden Tag kaufst du bei mir ein, wieso sollte ich dir Pfand berechnen? Das mache ich mit keinem meiner Kunden. Wo käme ich denn da hin? Wir wohnen im selben Viertel, da würde ich doch nicht anfangen, Pfand abzuhalten.
    – Als ich die Flaschen gekauft habe, kannten wir uns noch nicht. Es war im Sommer, und du hast mir Pfand berechnet.
    Es sind insgesamt sechs kleine Glasflaschen, das Geld ist nicht der Rede wert, und Gül neigt auch nicht dazu, auf ihrem Recht zu beharren. Es muss an der Art liegen, wie Hayri auf seinem Schemel sitzt, wie der fleckige Pullover über seinem großen Bauch spannt, an seiner unrasierten Erscheinung und seinem verstohlen dreckig wirkenden Grinsen, dass Gül nicht einfach die Flaschen dalässt und geht.
    – Im Sommer? Wie soll ich mich daran denn erinnern? Also wirklich.
    – Brauchst du ja nicht, sagt Gül, ich kann mich erinnern. Du hast mir für diese Flaschen Pfand berechnet, ich schwöre, bei Gott.
    Es kommt ihr selber übertrieben vor, den Namen des Herrn wegen sechs kleiner Flaschen in den Mund zu nehmen. Und Hayri offensichtlich auch.
    |215| – Lass doch Gott aus dem Spiel, sagt er, was versteht er denn von Cola? Oder von Pfand? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Warum hast du die Flaschen nicht nach zwei Tagen zurückgebracht, was hast du die auch monatelang aufbewahrt? Hättest du sie zeitig zurückgebracht, wüsste ich alles noch, aber so … Lass sie einfach hier. Kann ich dir sonst irgendwie helfen? Brauchst du noch etwas?
    – Mein Pfand.
    – Ach, Gül, jetzt hör doch mit dem Pfand auf. Du kommst aus dem riesengroßen Deutschland und fängst an, dich hier mit mir wegen Pfand zu streiten? Ich nehme nie Pfand, Gül. Nie.
    Gül weiß, dass sie Pfand bezahlt hat, hier bei Hayri. Das ist das Einzige, was sie gerade weiß. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Die Flaschen dalassen oder mitnehmen. Hayri beschimpfen oder belächeln.
    Sie dreht sich einfach um und verlässt den Laden.
    Draußen fallen die ersten Flocken des Jahres. Wie lange hat sie schon keinen Winter in dieser Stadt erlebt? Sind es zwölf Jahre, dreizehn, fünfzehn? Wer weiß das schon so genau, und was für einen Unterschied macht es. Sie beginnt gerade, sich über den Schnee zu freuen, doch der Ärger über Hayri drängt sich sofort wieder in den Vordergrund. Es ist zum Lachen, denkt sie. Diese Unordnung hier, die Willkür, diese Art, die Regeln jeden Augenblick neu zu bestimmen. Hayri hat sie betrogen, egal, wie gering der Betrag ist. Der Mann, bei dem sie täglich ihr Brot kauft, hat sie geprellt und dabei gegrinst, und sie kann nichts dagegen tun. Ab morgen könnte sie zu einem anderen Kaufmann gehen, doch jeden Tag kommen Leute in Hayris Laden, Leute, die gerne klatschen.
    Es ist klar, was Hayri sagen würde: Da kommt diese Gül aus dem reichen Deutschland, baut sich ein großes Haus hier, richtet es mit Bosch-Kühlschrank und Grundig-Fernseher ein, mit Sony-Videorecorder und Kristallgläsern in den Wohnzimmervitrinen |216| und was nicht noch alles und ist so geizig und kleinherzig, von einem armen Kaufmann Pfand

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