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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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zurückzuverlangen, den sie nie bezahlt hat. Es sind die vermeintlich großen Leute, die dem kleinen Geld hinterherrennen, ohne sich zu schämen.
    Natürlich war Hayri nie in ihrer Wohnung, aber die Leute reden gerne und viel, und Gül ist sich der Blicke bewusst, mit denen einige der Nachbarn sie ansehen. Sie spürt den Neid, und sie kann niemanden abbringen von dem Irrglauben, dass sie geradewegs aus dem Paradies kommt, das sie auch hier errichten kann, weil sie die nötigen Mittel dazu hat.
    Aber ist sie nicht selber schuld an diesem Irrglauben? Hat sie nicht jeden Sommer den Wagen voll beladen mit allem, was die Kaufhäuser zu bieten hatten? Hat sie nicht jeden Sommer glücklich und zufrieden gelächelt? Woher sollen die Leute wissen, dass der Grund hier lag und nicht dort, wo weder Milch noch Honig fließen?
    Sie hat erzählt von der kleinen Küche, in der sie gesessen hat, von der Straße, in der sie gewohnt haben, von den Schichten und Regeln, die sich nie änderten, doch das hat sich nicht so schnell herumgesprochen wie ihre Wohnungseinrichtung.
    Kaum einer weiß, wie wenig Geld ihr Fuat Monat für Monat schickt, und sie muss wie alle Kohlen kaufen, einen neuen Wintermantel für Ceren, und es ist unverschämt, was der Schuhverkäufer für ein paar Damenstiefel in Größe 41 haben möchte.
    Als sie nach Hause kommt, ist Ceren schon aus der Schule zurück und sitzt mit bläulichen Lippen in eine Decke gehüllt am Ofen und zittert.
    – Was ist los, mein Mädchen, fragt Gül, ist in der Schule das Holz ausgegangen?
    Ceren sieht sie erstaunt an.
    – Woher weißt du das?
    |217| – Ich bin auch hier zur Schule gegangen. Einiges hat sich geändert seitdem, anderes ist gleich geblieben.
    Sie reicht ihrer Tochter eine weitere Decke, legt etwas Kohle nach, setzt sich neben Ceren, küsst sie aufs Ohr und sagt:
    – Keine Sorge, gleich wird dir warm werden.
    Sie erzählt von den Tagen, als der Schmied Holz in die Dorfschule schickte, damit die Kinder nicht froren. Die Schule hatte ein Klassenzimmer und nur einen Lehrer für alle Grundschüler. Ceren geht in eine Schule, in der ihre Mutter sich verlaufen würde, und am Ende des Monats hat Gül nicht mal so viel Geld übrig, dass sie auch nur ein Dutzend Scheite spenden könnte.
    – Im Schreibmaschinentest habe ich fast geweint, sagt Ceren. Ich habe meine Finger gar nicht mehr gespürt, ich konnte die Tasten kaum drücken, aber ich habe mich gezwungen dazu. Bei den i und ı ist es mir noch nicht aufgefallen, aber als die Lehrerin das erste Wort mit ç diktiert hat, habe ich gemerkt, dass ich die Q-Tastatur im Kopf habe, die deutsche, und nicht die F. Es lag ja ein Blatt über den Tasten, wir mussten blind tippen, und es war alles falsch. Ganz falsch. Soviel Fehler wie Anschläge.
    Zwei Jahre später wird Ceren damit beeindrucken können, dass sie auf beiden Tastaturen blind und fehlerfrei 100 Anschläge in der Minute schafft, auf mechanischen Schreibmaschinen. Sie wird noch schneller sein auf elektrischen, doch die F-Tastatur wird mit den Computern komplett abgeschafft werden und nur noch eine Erinnerung bleiben an diesen Test, den sie nicht besteht.
    Ihre Noten sind insgesamt schlechter als in Deutschland, wo sie weder positiv noch negativ auffiel. Hier fragt sie sich, ob sie das Schuljahr schaffen wird, und Gül macht sich Vorwürfe, ihre Tochter hierhergebracht zu haben.
    Ihr selber geht es gut. Oder etwa nicht? Jeden Tag sieht sie |218| ihren Vater, sie sieht ihre Schwester Sibel regelmäßig, sie hat nicht mehr diese ständige Befürchtung, dass sie etwas nicht verstehen könnte, sie kann alles zu Fuß erreichen und verläuft sich auch nicht mehr. Wenn sie vor die Haustür geht, ist es, als würde sie in eine Welt treten, in der sie wirklich existiert, nicht nur anwesend ist, wo sie mehr ist als ein Name auf einer Karteikarte in einer Fabrik, ein weiterer Fall im Arbeitsamt, eine weitere Person, die man befremdet ansieht, weil sie anders ist.
    Wenn sie auf die Straße geht, kommt es ihr vor, als wäre sie realer, als sie in Deutschland war.
    Doch sie geht immer noch jeden Tag zu Hayri, sie sieht, mit welchen Blicken man sie in der Nachbarschaft betrachtet, sie sieht, wie Besucherinnen verstohlen über den Stoff des Sofas fühlen, aus den Augenwinkeln den Nippes in ihrer Vitrine begutachten, die Porzellanfiguren, die es hier nicht gibt, neben Kristallvasen, die teurer aussehen, als sie sind. Sie bemerkt, wie die Menschen auf den Videorecorder schauen, in den sie

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