Heimstrasse 52
Bäumen gefallen sind, vielleicht hat Timur den ganzen Morgen in Erinnerungen geschwelgt, vielleicht wird man mit dem Alter so. Er schaut herunter auf seinen Teller, ohne die Nase hochzuziehen, und auch der Rhythmus seines Atems verrät ihn nicht. Gül kann nicht sagen, wie und wieso sie auf diesen glasigen Glanz aufmerksam wird, der die Wangen hinabzulaufen droht.
– Was ist, Vater?, fragt sie.
|209| Der Schmied blickt auf und lächelt, jetzt hat er zwei kleine Spuren auf seinen Wangen.
– Ich musste nur an deine Mutter denken, sagt er. Weißt du, ihr wart noch so klein, und sie ist einfach von uns gegangen. Und kaum hatte ich zweimal geblinzelt, da warst du schon groß und hast geheiratet. Niemand ist dir gram deswegen, so ist das Leben, Kinder werden groß, heiraten und gehen aus dem Haus. Aber du bist nicht nur aus dem Haus gegangen, sondern in dieses Deutschland. Deine Mutter ist ganz verschwunden, aber du bist in den Sommern gekommen, wie ein Traum war das, und spätestens um diese Zeit jetzt bin ich aufgewacht, und du warst weg. Dann habe ich über dieses verfluchte Telefon deine Stimme gehört, aber wo war da der Unterschied, ob eine Stimme aus Deutschland kommt oder aus dem Jenseits? Die anderen sind auch gegangen, das ist der Lauf der Dinge, aber ich weiß, wo sie sind, ich kenne die Namen der Städte und manchmal auch den Geruch ihrer Straßen. Woher soll ich wissen, ob es überhaupt ein Deutschland gibt? Von hier aus ist das fraglicher als Himmel und Hölle. Es ist nicht die Entfernung, liebste Gül, drei Stunden mit dem Flugzeug und dann noch mal sechs Stunden mit dem Bus, so sagt ihr doch. In der Zeit kann man nicht zu Emin fahren, er ist weiter weg, als du es warst, aber er war dennoch da. Hier, in einem Dorf ohne Strom, ich kenne sogar den Akzent, den sie dort sprechen. Du weißt doch, wie sie sagen, Gül, du weißt, wie sie sagen: Möge der Herr dich von dem Schmerz um deine Kinder bewahren. Ihr seid alle am Leben, er sei gelobt, aber möge der Herr niemandes Kinder in die Fremde geleiten.
Jetzt fällt ein Tropfen ins Essen, und Timur zieht die Nase hoch.
Warum habe ich ihn nie in die Heimstraße geholt, fragt sich Gül. Egal, was Fuat dazu gesagt hätte, egal, was es gekostet hätte, ich hätte ihn nach Deutschland holen sollen, damit er |210| diese Fremde mit Bildern füllen kann, mit Klängen und Gerüchen, damit er nicht mit einer Stimme aus dem Jenseits telefoniert.
Auch ihre Augen sind feucht, aber gleichzeitig ist da Freude.
– Wir werden diesen Winter gemeinsam verbringen, sagt sie. Und den nächsten auch. Und den übernächsten. Ich wohne jetzt hier, ich bin zurückgekehrt. Für immer.
Wie schnell man solche Worte in den Mund nimmt. Wie wenig man in die Zukunft blicken kann.
Beide werden noch häufig an dieses Essen denken, an die grünen Bohnen mit ein wenig Hack, weil das Geld nicht für eine ordentliche Portion Fleisch reicht, an die Weizengrütze mit Tomaten an einem Spätherbsttag in dieser kleinen Stadt mitten in Anatolien. Weißt du noch?, werden sie sagen und: Wer hätte gedacht, dass es so kommen würde?
Sie werden lächeln, wie sie heute lächeln, nur ohne Wehmut, ohne das Ziehen eines vergangenen Schmerzes. Bis ein neuer Schmerz den Anfang eines weiteren Abschnitts markieren wird.
Ceren weiß nicht genau, was sie antworten soll, als İlkay sie fragt, ob sie schon mal Basketball gespielt hat. Zu oft ist sie in den letzten Wochen die Quelle allgemeiner Belustigung gewesen, wenn sie nicht wusste, was ein Lineal ist, wenn sie aus alter Gewohnheit eine Eins im ersten Moment für eine gute Note hielt, wenn sie sich beim Text der Nationalhymne vertat, vergaß aufzustehen, wenn ein Lehrer das Klassenzimmer betrat, ihren Stift nicht auf den Fingern rotieren lassen konnte, obszöne Andeutungen nicht verstand und aus tausenderlei anderen Gründen.
Es ist nicht so, dass ihre Mitschüler sie nicht leiden können und sie deshalb zur Zielscheibe ihres Spottes machen, das weiß Ceren. Im Gegenteil, die meisten sind ausgesprochen liebenswürdig |211| zu ihr und bieten ihr immer wieder Hilfe an, vor allem die Jungen in der Klasse. Doch wenn sie etwas Unangebrachtes tut, folgt fast mit Sicherheit schallendes Gelächter.
Ceren hat noch nie Basketball gespielt, und sie weiß nicht, ob die Frage auf einen Schabernack hinausläuft, und möchte deshalb zunächst wissen:
– Warum?
Sie sagt nicht: Das ist doch dieses Spiel mit den Körben.
– Wir könnten dich gut in der
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