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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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alle keine Aufgabe hatten, |221| auf wessen Mist diese Idee gewachsen war. Niemand gab eine Antwort, und mit der Wut des Lehrers wuchs auch die Anzahl der Schläge, die der Einzelne bekam.
    Ceren verkrampfte sich immer mehr, damit all diese schlechten Gefühle keinen Platz in ihr hätten, und während der zwanzig Minuten, die sie dort saß wie jemand, der darauf wartet, sich vor allen Leuten in die Hosen zu machen, wurde es mit jedem weiteren Schlag, den jemand anders bekam, schlimmer für sie. Dann fing sie İlkays Blick auf, die erschrocken auf Cerens Unterlippe sah. Ceren fasste dorthin, spürte die Blase und fast gleichzeitig das Jucken. Eine Welle des Ekels und der Verzweiflung stieg in ihr hoch, und die Blase schien noch größer zu werden und ihr Körper sich noch stärker zu verkrampfen.
    Wäre ich nur schneller drangekommen, wird sie später sagen, hätte ich nur weniger Zeit gehabt. Das Warten war das Schlimmste.
    Es waren aber nicht alle drangekommen. Nach Ceren war İlkay mit der Kreide in der Hand an die Tafel getreten, und obwohl sie wusste, dass sie die Aufgabe nicht würde lösen können, hatte sie fast eine Viertelstunde Zeit geschunden, der Lehrer hatte sie nicht unterbrochen. Entweder war ihr Ansatz nicht völlig falsch oder aber er hatte auch keine Ahnung. Cenk hatte nach ihr das Gleiche versucht, aber ihn hatte der Lehrer nach wenigen Minuten unterbrochen: Leg mal die Kreide aus der Hand, das ist ja völliger Unfug. Zeig mir lieber mal die Handfläche. Nein, nein, die linke, in der du die Kreide gehalten hast.
    Die Schulglocke hatte an diesem Tag acht Schüler vor Schlägen bewahrt.
    Die kommen nächste Stunde dran, hatte der Lehrer angekündigt, er wollte sich nicht nachsagen lassen, dass er ungerecht wäre. Oder nicht alle Möglichkeiten ausschöpfte, um seinen Schülern die Mathematik nahezubringen.
    |222| Gül betrachtet die größte Herpesblase, die sie je gesehen hat und je sehen wird, und fragt sich, ob es die richtige Entscheidung war. Und sie fragt auch Ceren.
    – Wir sind doch zusammen, sagt ihre Tochter.
     
    Als hätte sich die Heimstraße ausgedehnt, hätte Seitenstraßen bekommen, die ebenfalls nicht asphaltiert sind, und die Seitenstraßen hätten sich ihrerseits weiter verzweigt, als wären sie Triebe und junge Äste eines Baumes, so kommt Gül manchmal die Stadt vor. Auch hier kennt jeder jeden, wenn auch nicht immer direkt, sondern um eine oder zwei Ecken. Der Cousin des Kochs Kadir, der hinter dem Krankenhaus wohnt, die Lehrerin Nesrin, deren Onkel Kemal bei der Verwaltung arbeitete, einer der Söhne des Pfeifenrauchers Fatih. Wenn man ein oder zwei Generationen zurückgeht, gibt es immer eine Beschreibung, mit der man die Person einordnen kann.
    Gül weiß, dass es früher auch so war, sie musste nur sagen, sie sei die Tochter des Schmieds Timur, und alle wussten Bescheid, aber damals war sie noch klein, und die Stadt erschien ihr riesig, damals konnte sie sich nicht wirklich vorstellen, dass hier jeder jeden kennt. Sie war schüchtern und schnell verängstigt.
    In einigen Tagen wird sie Großmutter sein, sie ist nun diejenige, in deren Gegenwart man sich ordentlich hinsetzt und nicht raucht. Als sie weggegangen ist, war sie eine junge Frau, alle sagten kızım zu ihr, mein Mädchen, oder bacı, Schwester, nun aber kommt sie zurück und ist nicht nur ihre Schwester, sondern für viele abla, große Schwester, und man begegnet ihr mit Respekt. Wie sagen sie: Es geht nicht nach dem Geldbeutel, es geht nach der Reihe.
    Ich sollte keine Angst mehr haben, sagt Gül sich, ich sollte mich nicht klein fühlen, nur weil ich so kurz zur Schule gegangen bin und keine Bildung habe.
    Der Glaube, dass man mehr über das Leben lernt und bessere |223| Urteile fällen kann, wenn man eine gute Schulbildung genossen hat, wird ihr das Leben lang erhalten bleiben. Diese Befangenheit, die höchstens für einige Augenblicke weicht, die sie auch dann nicht verlässt, wenn sie liest, dass ein Professor eine Studentin sexuell genötigt hat, oder wenn Melike ihren Kindern beibringt zu lügen, weil es nicht die Ehrlichen sind, die es im Leben weit bringen, sondern die, die in der Lage sind, die Wahrheit etwas großzügiger auszulegen. Diese Unsicherheit wird dazu führen, dass sie weise werden wird, wirklich weise, weil sie nicht Gefahr läuft, auf ihre Weisheit auch noch stolz zu sein.
     
    – Ihr seid verwandt, sagt Hayri, der Kaufmann, auch wenn ihr euch nicht kennt. Aysels Großmutter war eine

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