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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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in einer Zementfabrik beschäftigt ist, etwas zurückgezogen am Rande der Stadt und drückt ihrem Vater jeden Monat eine stattliche Summe in die Hand. Ihre Ehe ist nach drei Fehlgeburten kinderlos geblieben, und die Eheleute leben bescheiden, sie sind wahrscheinlich die Einzigen in der Stadt, die keinen Fernseher haben, obwohl sie sich einen leisten könnten.
    Melike wohnt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Izmir und schickt ihrem Vater in unregelmäßigen Abständen kleine Summen.
    Nalan ist in Istanbul mit einem Barbesitzer verheiratet, hat eine Tochter von ihm, und die ganze Stadt zerreißt sich das Maul über sie, weil sie angeblich in den Sumpf des Nachtlebens gesunken ist und unsagbar tief dekolletierte Kleider trägt. Wenn sie im Sommer kommt, stets ohne ihren Mann, ist sie vielleicht etwas stärker geschminkt als die anderen Frauen, und sie benimmt sich, als wäre sie eine feine Dame, die in der Stadt aufgewachsen ist, doch falls sie in Istanbul tatsächlich ein Lotterleben führt und Kleider trägt, die der Anstand verbietet, merkt man es ihr hier nicht an.
    Auch sie schickt hin und wieder Geld, viel seltener als Melike, |207| aber in der Regel deutlich mehr als ihre ältere Halbschwester.
    Emin arbeitet als Lehrer in einer Provinz im Osten und unterstützt seinen Vater nicht. Da er der Jüngste ist, sieht er es als die Aufgabe seiner älteren Schwestern, dem Vater unter die Arme zu greifen. Güls Möglichkeiten sind gering, weil sie mit den 400 Mark auskommen muss, die Fuat ihr jeden Monat überweist, doch auch sie versäumt es nicht, ihrem Vater hin und wieder etwas zuzustecken.
    Als Kind hat Gül viel Zeit bei ihrem Vater in der Schmiede verbracht, und später, als sie jungverheiratet war, kam Timur sie nahezu jeden Morgen im Haus ihrer Schwiegereltern besuchen. Nun kommt er meist vormittags vorbei, sitzt mit seiner Tochter in der Küche, die wie der Rest des Hauses längst eingerichtet ist. Er legt seine Mütze auf den Tisch, und während Gül das Mittagessen bereitet, sprechen die beiden von alten Zeiten, davon, wie verstreut die Geschwister nun sind, über das Wetter, die Apfelernte, die Kühe, den riesigen Kühlschrank aus Deutschland, über Ceren und die Schule, über Ceyda und die bevorstehende Geburt, darüber, dass Fuat nun wieder wie ein Junggeselle in einem kleinen Apartment wohnt, über das Leben in der Heimstraße, über das Trocknen der Aprikosen, die Käfer im Walnussbaum, über die Enkel und Nichten, über Suzan, die in Italien lebt und nicht mal mehr im Sommer kommt.
    In all ihren Worten schwingt eine Freude mit, die es am Telefon nicht geben konnte. Wie soll die Sehnsucht enden, wenn nicht auch die Augen satt werden können?
    Wenn Gül das Geräusch des Mopeds ihres Vaters vor dem Haus hört, das Ersterben des Motors, den Klang beim Ausklappen des Ständers, dann ist es jedes Mal, als würde alles in ihr weich werden und loslassen, als würde man halb erfroren in einen Hamam gehen, wo die warmen Dampfschwaden dem Tag sein Gewicht nehmen. Kein Vergleich mit dem Klingeln |208| des Telefons mitten in der Nacht, wenn es endlich eine Verbindung gab, dieses Hochschrecken aus dem Schlaf, der trunkene Weg die Treppe hinunter, die Notwendigkeit, sich kurzzufassen.
    Diese angemeldeten Gespräche gibt es längst nicht mehr. Fuat wählt in Deutschland die Nummer, und kurz darauf klingelt das Telefon in Güls Wohnzimmer. Mindestens einmal die Woche telefonieren die Eheleute miteinander, wenn auch meistens nur kurz, da Telefonate immer noch teuer sind. Es werden keine Briefe mehr geschrieben wie zu den Zeiten, als Fuat beim Militär war. Es werden überhaupt keine Briefe mehr geschrieben, weder Gül noch eines ihrer Geschwister setzt sich mit Papier und Stift hin, man ist verbunden durch Worte, die gesprochen werden.
    Wenn Gül Sehnsucht hat, muss sie nicht einen Brief, den sie schon seit Wochen auswendig kann, aus ihrer Tasche holen, sie kann reden, mit ihrem Vater, mit ihren Schwestern, nur mit Emin nicht, da es kein Telefon gibt in dem Dorf, in dem er arbeitet.
    Der Klang bekommt nun Raum, und Vater und Tochter fühlen sich frei und gelöst. Doch in diesen Raum treten auch Gefühle, die es am Telefon und in den Sommern nicht gab.
    Eines Tages, als der Schmied zum Mittagessen bleibt, werden noch vor dem ersten Bissen seine Augen feucht. Es gibt grüne Bohnen mit ein wenig Hackfleisch und dazu Weizengrütze, vielleicht liegt es an diesem Gericht, vielleicht an den Blättern, die von den

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