Heimstrasse 52
selbst noch nie einen Film geschoben hat, wenn sie allein ist. Sie hört lieber Radio und häkelt dabei oder liest satirische Kurzgeschichten von Aziz Nesin oder Muzaffer İzgü, die auf eine Weise von den Widrigkeiten dieses Landes erzählen, die sie erheitert.
In diesem Winter wacht Gül manchmal nachts auf, atmet ein, seufzt, selig, dass es nicht nach Alkohol riecht.
Doch immer wieder fragt sie sich, ob es die richtige Entscheidung war. Zum Beispiel, als Ceren mit einer riesigen Herpesblase an der Lippe nach Hause kommt. Groß wie ein Fünfmarkstück. Als sie morgens zur Schule gegangen ist, war da nichts zu sehen.
Gül zieht entsetzt die Luft ein.
– Was ist passiert?
Ceren zeigt ihre rechte Handfläche vor und lacht.
– Ich hatte Angst davor.
|219| Gül erahnt den Abdruck eines Lineals, und im ersten Moment möchte sie zur Schule rennen, den Lehrer am Kragen packen und ihn fragen, für wen er sich eigentlich hält.
Sie selber hat ihre Tochter nie geschlagen, weder diese noch die andere, und auch ihr Mann hat die Kinder nie geschlagen. Was glaubt der Lehrer, wer er ist, dass er sich mehr rausnehmen kann als die Eltern. Das sind keinen kleinen Kinder, die er am Ohr zieht, sondern junge Erwachsene, denen er mitleidslos mit dem Lineal auf die Handfläche klatscht. Gül selber ist auch schon mit dem Lineal geschlagen worden, aber nicht so, dass sie einen Abdruck davon hatte. Sie möchte den Lehrer packen und ihn anschreien, dass er nicht mehr glücklich werden wird, sollte er es noch einmal wagen, ihre Tochter zu schlagen.
Cerens Lachen geht derweil in ein Weinen über. Vielleicht weil sie das Gesicht ihrer Mutter sieht.
– Du bist mir nicht böse deswegen, oder?
Gül fällt dieses Gefühl ein.
Jeder Augenblick beinhaltet eine Wahrheit. Doch Augenblicke und Wahrheiten gehen vorüber, sie haben keinen Bestand. Manche Augenblicke sind aber so stark mit einem Gefühl verbunden, dass darin eine Wahrheit liegt, die sich nicht ändert. Gül erinnert sich daran, dass sie damals das klatschende Geräusch des Lineals schlimmer fand als den Schmerz. Dass sie weinte, weil sie dachte, ihre Mutter würde böse auf sie sein.
Dieses Gefühl kommt sie besuchen, und Gül nimmt Ceren in den Arm. Dieses Gefühl spricht die Worte durch Gül, ohne dass sie etwas dafür tun muss:
– Egal, was passiert ist, egal, was passieren wird, ich bin deine Mutter, ich werde immer hinter dir stehen. Immer. Und wenn du dich eines Tages auf der Straße verkaufen solltest, wird da Schmerz sein, aber ich werde deine Mutter bleiben und tun, was eine Mutter tut.
|220| Dieser Augenblick wird für Ceren mit dem Gefühl der Umarmung ihrer Mutter verbunden bleiben. Die weichen Arme, der Duft der Haare an ihrer Nase, dieser Moment, in dem diese Umarmung ihr alle Last nimmt, alle Angst, allen Ekel, alle Zweifel. Aus einem Gefühl Güls wird ein anderes für Ceren, aus einer Wahrheit wächst eine andere, aus einer Angst wird eine Liebe, und jeder Augenblick bleibt für immer, auch wenn er vergeht.
Als sie sich voneinander lösen, ist Cerens Herpesblase natürlich immer noch so groß wie vor der Umarmung.
Ceren erzählt, wie die ganze Klasse gemeinsam beschlossen hat, die Matheaufgaben, die sie sowieso nicht verstanden hatten, einfach nicht zu machen. Nicht mal einen Lösungsversuch aufs Papier zu bringen. Was sollte der Lehrer schon tun, wenn alle ohne Hausaufgabe kamen. Und es hatten sich alle daran gehalten, auch die Streber.
Der Lehrer rief sie nacheinander vor, drückte ihnen Kreide in die Hand und gab ihnen die Gelegenheit, die versäumte Hausaufgabe an der Tafel zu lösen. Und jeder, der es nicht schaffte, bekam Schläge mit dem Lineal. Die wenigsten gingen überhaupt an die Tafel, sondern legten die Kreide gleich wieder hin und streckten die Hand aus. Einige versuchten erfolglos, die Aufgabe zu lösen, und mussten sich vom Lehrer auch noch verhöhnen lassen.
Ceren saß in ihrer Bank hinten links und wusste, dass sie geschlagen werden würde. Das erste Mal in ihrem Leben. Sie hatte ihrer Mutter nicht erzählt, dass sie die Hausaufgabe nicht gemacht hatte. Sie wusste nicht, ob sie gleich vor der ganzen Klasse losheulen würde, als Krönung aller peinlichen und beschämenden Situationen, in denen sie seit Beginn des Schuljahrs schon gewesen war. Sie wusste, dass heulen viel schlimmer wäre, als den Ball in den eigenen Korb zu werfen.
Der Lehrer fragte jeden einzelnen Schüler, den er aufrief, wer dafür verantwortlich war, dass sie
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