Heimstrasse 52
wollte das Glück einen Weg nach draußen suchen und sich dann schließlich mit Tränen begnügen. Als sie Duygu zum ersten Mal auf dem Arm hält, ahnt sie schon, dass sie dieses Kind vermissen wird, in ihr Glück mischt sich gleich eine Ahnung von Schmerz. Und schon nach fünf Tagen fahren Ceyda und Adem in das Dorf, aus dem Adems Eltern kommen, doch Gül wird ihre Enkelin noch einmal sehen können, bevor sie zurück nach Deutschland fahren.
Gül geht es gut, auch wenn sie merkt, dass Fuat sich verändert hat, auch wenn sie spürt, dass ihm das Leben allein in Deutschland gefällt. Immer wieder nimmt sie es sich vor, doch sie wird ihn den ganzen Urlaub lang nicht fragen, wie viele Jahre er noch drüben zu bleiben gedenkt. In den letzten Tagen, bevor er zurückfährt, wird Fuat ungeduldig, aufbrausend. Gül ist gekränkt, weil es offensichtlich ist, dass er es nicht erwarten kann, aus seiner Heimatstadt wegzukommen, seine Frau und seine Tochter wieder zu verlassen.
Doch bis dahin hat Gül ihren Mann viele Stunden zufrieden in einem der Gärten der Sommerhäuser sitzen sehen, das Wetter und den Geschmack des Obstes lobend, die Freiheit in diesem Land, die Freiheit, nicht um Punkt sechs auf der Schicht sein zu müssen, die Freiheit, abends um zehn beim Kaufmann noch einen Rakı kaufen zu können, die Freiheit, das Leben zu genießen.
Gül hat ihn gesehen, Tee trinkend, die Würfel beim Backgammon mit der diebischen Freude der Siegesgewissheit werfend, Loblieder auf Deutschland singend, Hasstiraden schwingend |229| gegen das Wetter dort, Reden, in denen er wortreich und mit Vergleichen, ungehört wie Platten frisch aus dem Presswerk, seine Zuhörer beeindrucken konnte.
Sie hat gesehen, wie seine Brust weit wurde, wie sein Herz sich geöffnet hat, und sie hat sich gefreut an diesem Bild ihres Mannes, sie hat sich gefreut, ihn abends neben sich zu hören, selbst wenn das Zimmer nach Anisschnaps roch, morgens noch schlimmer als in der Nacht.
Doch Gül hat auch gesehen, dass Ceyda nicht glücklich ist, obwohl sie sich bei ihrer älteren Tochter nie sicher ist, was in ihr vorgeht. Sie hat Adem beobachtet, diesen jungen Mann, der nicht trinkt, sich nicht über seine Arbeit beklagt, gerne und viel über Fußball redet und manchmal etwas abwesend scheint. Sie hat sich gefragt, was für Probleme Ceyda mit ihm haben könnte. In den wenigen Tagen, die sie sich gesehen haben, hat sie keine Gelegenheit gehabt zu fragen, doch da ist ein Schatten auf Ceydas Gemüt, ein Schatten, der für Augenblicke verschwindet, wenn sie Duygu auf dem Arm hält.
Gül hat mit Ceyda nicht in Ruhe reden können, doch sie hat Ceren beseitegenommen und gesagt:
– Hüte dich, eifersüchtig zu werden, weil du mich glücklich siehst. Dein Vater und deine Schwester machen mich nicht glücklicher, als du es tust. Hättest du nicht zugestimmt, wären wir nie hierhergekommen, ich weiß nicht, wie ich das ohne dich hätte schaffen sollen. Und wenn du merkst, dass du doch eifersüchtig wirst, dann denk an die Stunden, die wir am Ofen verbracht haben und …
Sie sucht nach Worten, aber ihr fallen keine ein, die diese Stunden am Ofen beschreiben könnten, doch an Cerens Augen kann sie erkennen, dass ihre Tochter sie auch so versteht.
Als Fuat schließlich weg ist, da klingt nicht die Freude dieser Wochen nach, sondern es drängen sich Dinge in den Vordergrund, die sie zwar wahrgenommen hat, die ihr aber nicht so wichtig schienen, solange Leben um sie herum war, Familienleben. |230| Auch Melike und Mert haben einige Wochen im Sommerhaus verbracht, Nalan war da mit ihrer Tochter, Sibel und Aziz sind häufiger gekommen, Emin ist mit seiner Frau Meryem fast zwei Monate geblieben, der Schmied hat von morgens bis abends gestrahlt, das Leben pulsierte und suchte sich einen Weg wie das wilde Wasser.
Nun, da alle weg sind, sitzt Gül allein zu Hause, wenn Ceren in der Schule ist, und fragt sich, warum sie sich so fühlt, als könne sie den ganzen Tag weinen. Nicht mal das Geräusch des Mopedständers ihres Vaters kann sie erheitern.
Als die ersten Blätter fallen, fragt sie sich, wohin sie gehört, warum sie sich mit über vierzig Jahren immer noch so verloren fühlt auf der Welt, ob der Tod ihrer Mutter ihr damals so tief ins Herz geschnitten hat, dass es ein ganzes Leben nicht mehr aufhören wird, zu bluten. Ob sie je den Klang des Löffels vergessen wird, den ihr Vater bei der Todesnachricht gegen die Wand geschleudert hatte. Ob Menschen, die von ihrer Mutter
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