Heimstrasse 52
gegangen ist, ob Leute sie gesehen haben, ob Bekannte gegrüßt haben, ob sie die Tränen wirklich zurückgehalten hat, bis sie durch die Haustür getreten ist.
Was soll sie tun? Zu ihrem Vater gehen? Zu Aysel? Zu Fuat? Sie weiß, wohin sie nicht mehr gehen wird. Zu diesem schamlosen Hayri. Nie wieder. Soll er doch in der Nachbarschaft tratschen, was er möchte.
Sie versteht Aysel nun besser, aber sie möchte nicht zu ihr. Das würde nichts ändern. Es gibt keinen Hayri mehr. Sie streicht ihn einfach aus ihrem Buch des Lebens. Strich.
– Wir kaufen nicht mehr bei Hayri ein, sagt sie abends zu Ceren.
|236| – Warum nicht?, fragt Ceren.
Obwohl sie zu erwarten war, hat Gül nicht mit dieser Frage gerechnet. Zum zweiten Mal an diesem Tag ist sie sprachlos, doch dieses Mal ist sie weder empört noch wütend, noch fällt sie ins Bodenlose. Auf der Suche nach den richtigen Worten blickt sie Ceren ins Gesicht.
– Wir kaufen dort nicht mehr ein, in Ordnung, sagt Ceren, man muss nicht für alles einen Grund haben. Ich werde seinen Laden nicht mehr betreten.
Als Mecnun zum ersten Mal zu den Yolcus kommt, ist er in Begleitung seiner Schwester. Während er Gül die Hand gibt, errötet er leicht und schaut zu Boden. Er ist ein hagerer Mann mit langen Gliedmaßen und zusammengewachsenen buschigen Augenbrauen, der reifer wirkt als 21 Jahre.
– Vielen Dank, murmelt er etwas linkisch, doch dann blickt er schon hoch und forscht in Güls Gesicht. Sein eigener Blick ist offen, verwundbar, aber auch selbstbewusst.
Er spricht ruhig und langsam, während sie zu viert im Wohnzimmer sitzen, wählt seine Worte mit Bedacht und ist in der Lage, sich gut auszudrücken. Man hört ihm gerne zu, wird Gül später sagen, doch noch wichtiger erscheint ihr, dass er auf Kleinigkeiten achtet, sein Teeglas vor Blicken abschirmt, wenn er vor den anderen ausgetrunken hat, damit Ceren nicht mehrmals zum Nachfüllen in die Küche muss. Wie er zwar zu Boden schaut, aber aufmerksam zuhört, wie seine kleinen Zwischenfragen erkennen lassen, dass er versucht, in seinem Kopf ein genaues Bild der Situation zu zeichnen. Wie er darauf bedacht ist, nicht zu viel Redezeit zu beanspruchen, obwohl er offensichtlich nicht nur gebildeter als die drei Frauen ist, sondern gebildeter als fast jeder, den Gül kennt, Yılmaz vielleicht ausgenommen, doch dem fehlt der Takt, den Mecnun hat.
– Komm, ich zeige dir mal meine neuen Spitzendecken, |237| sagt Gül zu İlkay, und sie gehen ins Schlafzimmer und lassen die beiden Verliebten nahezu eine Stunde allein. Gül schärft auch İlkay ein, dass niemand etwas erfahren darf, unter keinen Umständen.
– Ja, sagt sie, wer hätte das gedacht, Ceren und dein Bruder.
– Mein Bruder ist ein besonderer Mensch, ich bewundere ihn, sagt İlkay, und ich freue mich sehr für die beiden.
– Damit wir bessere Möglichkeiten haben, sind wir nach Deutschland, sagt Gül, bessere Möglichkeiten für uns und unsere Kinder. Man kann ja nicht ahnen, was der Herr mit einem vorhat, man kann nicht erahnen, wohin die Wege führen, die vor einem zu liegen scheinen. In Deutschland hätte ich Ceren diese Möglichkeit nicht bieten können.
– Deutschland, Deutschland, ach, Tante Gül, hör doch auf, sagt İlkay, das war mal, ihr lebt jetzt hier, am Anfang wart ihr vielleicht Deutschländer, aber jetzt seid ihr doch Einheimische, hör auf zu vergleichen. Wenn Onkel Fuat zurückkommt und sich erst mal eingelebt hat, werdet ihr Deutschland vergessen, so wie wir das Dorf vergessen haben, aus dem wir kommen. Wenn ich daran zurückdenke, kann ich mich nur noch an ein paar Farben erinnern, an sonst nichts.
Sie ist noch sehr jung, für sie sieht das Leben leicht aus, denkt Gül. Sie fragt sich, ob dieses Mädchen, dessen Urgroßvater noch an der Grenze gegen die Russen gekämpft hat, nicht einen weiteren Weg zurückgelegt hat als sie, von den Bergen Erzurums nach Anatolien, wo dieselbe Sprache gesprochen wird, man aber dennoch nicht dazugehört. Doch Gül freut sich, weil İlkay sie als eine der ihren betrachtet, selbst wenn sie sich immer noch nicht so fühlt und vielleicht nie fühlen wird.
Später, nachdem sie İlkay und Mecnun an der Tür verabschiedet haben, sieht Ceren ihre Mutter fragend an. Gül nickt.
– Ein vertrauenerweckender junger Mann. Und dieser Blick, mit dem er dich manchmal ansieht, das ist kein Feuer, |238| das ist eine Glut, die hoffentlich noch lange halten wird. Mögen die Wege euch offenstehen.
Nach diesem
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