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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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würde reichen, wenn ich Medet verlasse, dann dachte ich, es würde reichen, wenn ich hierherkomme, aber weder das eine noch das andere stimmte. Man braucht eine neue Welt, eine ganz neue Welt. Du musst alles hinter dir lassen, von vorne anfangen. Am besten in einer anderen Sprache, in der du noch nicht so beschimpft worden bist. Aber wer |226| will denn ganz neu anfangen? Wer will die Gesichter seiner Eltern vergessen, die Gesichter der Geschwister, der Nichten und Neffen. Wer will für immer in Deutschland bleiben? Hier ist es schwer für eine alleinstehende Frau. Aber in Deutschland hätten sie mich nie als eine der ihren angesehen, nie. So wie wir hier mit den Griechen. Sieh sie dir an, sie haben türkische Namen, sprechen kein Wort Griechisch mehr, leben seit Generationen hier, und wir nennen sie immer noch Griechen und geben ihnen keine Braut. Aber sie heiraten ja auch lieber untereinander. Man muss alles hinter sich lassen, aber man kommt nicht an, Gül, sagt sie, die Augen so voll, dass die Tränen jeden Augenblick hinabfließen werden.
    – Ich weiß nicht, warum Gott diese Last auf mich geladen hat, wäre ich nicht nach Deutschland gegangen, hätte Medet mich nicht so zurichten können, oder? Seine Brüder, seine Eltern, die Nachbarn, irgendjemand hätte mir doch geholfen, ich hätte irgendwo Schutz suchen können. Hast du gehört, was ich gesagt habe, den Arm hat er mir gebrochen, weil ich ihn vors Gesicht gehalten habe. Willst du etwa die Hand gegen mich erheben, hat er gesagt.
    Sie weint jetzt hemmungslos.
    – Ach, Gül, verzeih, ich habe doch sonst niemanden.
    Gül wagt kaum zu atmen. Da ist noch mehr, was sie nicht kennt, nicht bloß die Weinberge in Deutschland.
     
    Wenn Gül an Fuat denkt, wenn sie mit ihm telefoniert, selbst wenn sie abends vor dem Einschlafen die Anwesenheit eines anderen Menschen vermisst, ist da keine Sehnsucht, sosehr sie auch in sich hineinhorcht.
    Ihr fehlt jemand an ihrer Seite, wenn ihr auf der Straße Männer hinterherblicken, ihr fehlt die Möglichkeit, kurz vor Monatsende noch mal nach Geld fragen zu können, ihr fehlt Leben im Haus, Schritte, das Öffnen und Schließen von Schranktüren, der Klang des Wassers, wenn es in ein Glas |227| läuft, ein Seufzer aus dem Nebenzimmer, das unvermittelte Ratschen eines Feuerzeugs, doch Sehnsucht, so wie sie Sehnsucht nach ihren Kindern hatte, diesen Hunger, der die Seele ganz hohl werden lässt, zerstückelt und leer, dieses Ziehen in der Brust, den Schmerz, der einen bis in den Schlaf hinein begleitet, das hat sie nicht.
    Um so erstaunter ist sie über ihre Reaktion, als sie Fuat im Sommer wiedersieht. Er hat ein wenig abgenommen, was ihm gut steht, sonnig muss es gewesen sein in Deutschland, sein Gesicht ist gebräunt, und seine braunen Augen glänzen heiter.
    Da ist unvermittelt Freude, als sie Fuat aus dem Wagen aussteigen sieht, einen Mann, dem man die lange Fahrt kein bisschen anmerkt. Gül ist so verblüfft von diesem Gefühl, dass sie sich im ersten Moment nicht bewegen kann. Die Freude erfüllt sie voll und ganz, ein, zwei Sekunden ist jede Bewegung unmöglich, nur ihr Herz scheint zu bersten.
    Als sie schließlich einen Fuß vor den anderen setzen kann, zwingt sie sich, nicht zu rennen, diese paar Meter, die sie von ihrem Mann trennen, sie zwingt sich, ihr Gesicht zu halten, damit sich die Freude nicht in ihren Zügen widerspiegelt. Sie geht auf Fuat zu, lächelnd, das schon, und umarmt ihn. Zu sehr ist sie damit beschäftigt, sich im Zaum zu halten, um erkennen zu können, ob die Freude beiderseitig ist. Nach zwei Atemzügen in der Umarmung erst merkt sie, dass Fuat ein anderes Rasierwasser hat, und ihre Freude mindert sich, sie kommt sich betrogen vor.
    – Wie war die Reise? Hast du Hunger? Komm rein, Ceren ist gerade beim Kaufmann, sie müsste jeden Moment zurück sein. Du hast ein neues Rasierwasser, fügt sie noch hinzu und sieht Fuat lächeln.
    So ist er, nach 36 Stunden Fahrt hat er kurz vor der Stadt an einer Tankstelle gehalten, sich mit kaltem Wasser rasiert, um mit glatten Wangen hier anzukommen. Nicht wie Hayri, der |228| mit seinen vierzehn Tage alten Stoppeln auf seinem Schemel sitzt und aus dessen Hosen sich die Flecken nicht mehr rauswaschen lassen.
    Ceyda und Adem kommen zwei Tage nach Fuat, Gül sieht zum ersten Mal ihre Enkelin Duygu, und auch diesmal ist sie überrascht. Obwohl sie sich schon lange auf diesen Moment gefreut hatte, hat sie nicht geglaubt, dass es unter ihrer Haut prickeln würde, als

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