Heimstrasse 52
großgezogen wurden, sich auch so fühlen, nie richtig ganz. Ob ihre Sehnsucht auch so schwer wiegt. Ob es besser ist, etwas kennenzulernen und dann zu verlieren, oder ob es besser ist, es nie kennengelernt zu haben. Ob Sibel, die sich überhaupt nicht an ihre Mutter erinnern kann, es nicht möglicherweise noch schwerer hat, weil sie nicht mal weiß, womit man die Sehnsucht stillen könnte.
Gül sitzt zu Hause und lässt sich von Fragen gefangennehmen, auf die es keine Antworten gibt und die einen immer weiter hinaustreiben in ein Meer aus Verlangen. Melancholie, eine Beschäftigung, um die Leere nicht zu spüren.
Dieser Zustand hält nicht lange an. Einige Wochen nach Schulbeginn ist die Luft im Haus anders, es herrscht eine Stimmung, eine Schwingung, die Gül zunächst nicht genau benennen kann. Sie weiß nicht, ob es am Licht liegt, ob sie sich insgeheim nicht doch auf einen weiteren Winter hier freut, ob ihr Vater sie öfter kost, weil er ihre trüben Gedanken spürt. |231| Ein, zwei Tage ist sie verwundert über diese Veränderung, bis sie abends beim Fernsehen zu Ceren schaut und merkt, dass ihre Tochter nicht dem Film folgt, dass die Bilder in ihrem Inneren ihr einen verklärten Gesichtsausdruck verleihen, ein sanftes Lächeln, als hätte das Leben keine Grenzen mehr.
Still betrachtet sie ihre Tochter aus den Augenwinkeln, und die Fragen und der Schmerz weichen diesem Lächeln, es reicht, wenn Gül ein Spiegel sein kann für das Glück der anderen.
Erst später, als Ceren zurück ist aus dieser inneren Landschaft und die beiden sich fertigmachen, um ins Bett zu gehen, fragt Gül:
– Was ist passiert?
– Nichts, beeilt sich Ceren zu antworten, beeilt sich etwas zu sehr. Was soll schon passiert sein?
– Woher soll ich das wissen? Irgendetwas ist anders an dir. In den Zimtstaubton von Cerens Teint mischt sich nun Rot, Hitze umspült sie, und sie spürt die ersten kleinen Tropfen an den Haarwurzeln, aber sie weiß nicht, was sie sagen soll.
– Vielleicht … vielleicht … vielleicht bin ich müde … oder freue mich auf nächsten Sommer … oder …
Sie stehen im Flur vor der Küche und haben ihre Nachthemden bereits an.
– Komm, sagt Gül und geht noch mal ins Wohnzimmer und setzt sich auf die Couch. Komm her.
Cerens Schritte sind unsicher, als hätte sie verlernt zu gehen. Sie setzt sich neben ihre Mutter, die sie in den Arm nimmt.
– Was auch immer es ist, ich werde nicht schimpfen und mich nicht aufregen. Was ist los?
– İlkays Bruder, Mecnun, du kennst ihn nicht …
Sie macht eine lange Pause, und Gül fragt sich, warum sie nicht von selber drauf gekommen ist.
– Ichhabemichinihnverliebt.
|232| Gül schmunzelt.
– Mecnun heißt er also, wie in
Leyla und Mecnun
. Du hast also gleich den Richtigen gefunden, ja? Warst du mit ihm aus, im Café oder im Park?
– Nein.
– Warst du allein mit ihm?
– Ja, bei İlkay, aber nur ganz kurz.
– Ist er auch verliebt in dich?
– Ich glaube schon … Ja.
– Was ist er denn für ein junger Mann?
– Ein ruhiger, ganz lieber. Nicht so ein Zampano und auch kein Weiberheld. Er raucht, er trinkt, aber in Maßen, so weit ich weiß. Er spielt nicht. Er möchte mal Lehrer werden. Er liest die Cumhuriyet, so wie Onkel Yılmaz. Manche sagen, er wäre ein Linker. Und er hat so dunkle, tiefe Augen, ein bisschen wie Kinderaugen, so sanft und neugierig.
– Wie alt ist er denn, dieser Mann?
– Einundzwanzig.
– Und was macht er?
– Er studiert Deutsch.
Einige Sekunden herrscht Stille. Ceren dreht vorsichtig den Kopf und sieht ihre Mutter an.
– Wo studiert er denn?
– In Adana.
Gül nickt.
– Dann kommt er an den Wochenenden manchmal nach Hause?
– Ja.
– Hat man euch irgendwo zusammen gesehen? Du musst mir die Wahrheit sagen.
– Nein. Ganz bestimmt nicht.
– Gut. Wir müssen einige Regeln aufstellen. Ich habe nichts dagegen, wenn du diesen Mecnun siehst, aber nicht in der Öffentlichkeit. Und auch nicht zu häufig bei İlkay zu Hause. |233| Das hier ist eine kleine Stadt, wir dürfen nicht zum Klatsch der Leute werden, so schwer dürfen wir uns das Leben nicht machen. Dein Vater darf nie, nie etwas davon erfahren. Unter keinen Umständen. Wir werden einen Weg finden, dass er hierherkommen kann, ohne dass die Nachbarn ihn gleich alle sehen. Vielleicht lassen wir ihn Besorgungen machen, Kohlen schleppen oder dergleichen. Ich werde alles tun, um dir Gelegenheiten zu verschaffen, aber ich möchte nicht, dass du sie missbrauchst,
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