Heimstrasse 52
verstehen wir uns? Und wenn ihr euch Briefe schreibt, dann dürfen die niemals in die Hände eines anderen gelangen. Du darfst keine Angriffsfläche bieten.
In Cerens Augen sind Tränen, als sie ihre Mutter umarmt, sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll, ob das Glück ist, was sie empfindet, Erleichterung, Freude, Liebe oder eine unglaubliche Grenzenlosigkeit, als könnte sie fliegen.
Wie gut, denkt Gül, wie gut, dass wir hier sind und ich ihr diese Möglichkeit bieten kann. In der Heimstraße saßen wir viel enger aufeinander, wir waren wie eingeschlossen. Die Stadt war klein, dort hätten sie sich auch nicht irgendwo in der Öffentlichkeit treffen können, ohne dass sie früher oder später ein Nachbar gesehen hätte. Nach Bremen, sie hätten sich immer in Bremen treffen müssen, und da wäre Gül nervös geworden, zwei junge Menschen in einer großen Stadt, so weit außerhalb ihres Blickfelds. Hier scheint es ihr leichter. Wie gut, dass Fuat so weit weg ist. Auch ihr kommen die Tränen, es kommen Erinnerungen, und Mutter und Tochter sitzen an diesem Abend noch bis fast zwei Uhr in Decken gehüllt im Wohnzimmer, Gül erzählt, wie sie Recep kennengelernt hat in der Grundschule auf dem Dorf, wie er eines Tages, als sie bei der Schneiderin Esra arbeitete, unverhofft in der Stadt auftauchte und sich alle ihre Gedanken in dem Ton seiner Augen färbten. Zum ersten Mal in ihrem Leben erzählt sie jemandem von dem Brief, den Recep ihr geschrieben hatte und den sie nie gelesen hat, den sie in den Bach geworfen |234| hat, bevor sich die Wörter vor ihren Augen zusammenfügen konnten, weil sie auf einmal Schritte hinter sich hörte. Sie erzählt von dem Lotterielos, das er ihr geschenkt hatte und das gewann, und wie sie keine Erklärung dafür hatte, wie sie an dieses Los gekommen sein könnte, und deshalb schwieg. Gül erzählt aus den Tagen, in denen sie jünger war als ihre Tochter heute, und auch wenn Ceren sich ihre Mutter nicht in diesem Alter vorstellen kann, sieht sie fasziniert die Bilder an, die Güls Stimme in ihrem Kopf malt. Wie gut, dass wir hier sind, denkt auch sie. Sonst hätte ich Mecnun nie kennengelernt. Sie ahnt an diesem Abend, dass dieser Weg weit offen steht. Ihre Ahnung wird sich bewahrheiten, doch niemand kann ahnen, wie sich der gemeinsame Weg wieder teilen wird. Niemand kann die Schmerzen der Zukunft sehen, sonst würde man sich fürchten vor dem Leben und nicht reden bis weit nach Mitternacht.
– Deiner war ja wenigstens ein paar Wochen hier, und du konntest das Jucken loswerden, aber wie hält diese Aysel das bloß aus? Das ist ja nicht einfach, nachdem man einmal Baklava gekostet hat, den Rest den Lebens ohne auszukommen. Wenn die Schleusen einmal geöffnet sind, braucht man doch immer mal etwas zum Stopfen. Diese Aysel, also wirklich, sagt Hayri, und Gül steht da, als hätte jemand Blei in ihre Beine gegossen und ihr Gehirn mit Eis eingerieben. Hat der Kaufmann das wirklich gerade gesagt? Wie kann er es wagen? Wie kann er so zu ihr sprechen? Wie kann er so über Aysel sprechen, und was, was kann sie nun antworten? Was nur?
So wird sie es später erzählen. Jetzt sind da nicht mal all diese Fragen in ihrem Kopf, vor lauter Empörung und Verwunderung sind da keine Worte, nur Starre. Ihr Magen verhärtet sich, die Gedanken blockieren, doch sie ahnt, dass sie etwas sagen muss, dass sie sich wehren muss, weil sie sonst ihr Gesicht verliert, weil Hayri sie sonst das nächste Mal noch |235| unverschämter belästigen wird. Sie kann nicht so tun, als hätte sie nichts gehört.
– Ich wüsste nicht, was dich das angeht, sagt sie.
– Ach, komm, Gül, du weißt doch, wovon ich rede. Ihr redet doch auch darüber. Frauenvolk, den ganzen Tag klatscht ihr. Was habe ich denn verbrochen, dass ich nicht ein wenig mitreden darf?
– Du solltest dich schämen, sagt Gül, du solltest dich wirklich schämen.
Sie dreht sich um und möchte aus dem Laden gehen, als Hayri sagt:
– Warte, warte doch.
Gül hält inne, Hayri springt von seinem Schemel auf, Gül ist schon im Begriff, sich ihm erneut zuzuwenden, als sie den Kaufmann sagen hört:
– Sage ich etwa nicht die Wahrheit? Oder hat sie jemand, von dem ich nichts weiß?
Gül geht auf die Tür zu und hofft, dass man nicht sieht, wie ihre Hände zittern und ihre Lippen, sie hofft, dass ihr Rücken nicht von der Wut spricht, der Ohnmacht und den nahenden Tränen.
Hinterher weiß sie nicht mehr, wie sie die zwei Minuten bis nach Hause
Weitere Kostenlose Bücher