Heimstrasse 52
vor dem Kühlschrank, während er stehend aß. Die Plastikschuhe, mit denen er im Garten arbeitete, zog er auch zu Hausbesuchen an und erklärte die Risse in seiner Anzughose damit, dass es im Schrank Motten geben musste, mit dem Moped war er jedenfalls nicht gestürzt, ob Arzu das glaubte oder nicht.
Und nun sitzt er bei Gül, zu Hause im Schlafzimmer liegt eine zerrissene Strickjacke, die er nicht anziehen wollte, weil er selber noch sehr gut entscheiden konnte, wann er fror und wann nicht.
– In Sehnsucht, sagt der Schmied, dieses ganze Leben vergeht in Sehnsucht. Erst ist deine Mutter nach drüben gegangen, und um euch nicht weggeben zu müssen, habe ich dieses Weib zur Frau genommen. Dann seid ihr gegangen, eine nach der anderen, meine drei älteren Mädchen, Fatmas Töchter, sind aus dem Haus, und weißt du, was der Lehrer gesagt hat, als Emin zum dritten Mal sitzengeblieben ist? Schmied, hat er gesagt, Schmied, deine anderen Kinder waren doch nicht so, was ist denn mit dem los? Der stammt von einem anderen Acker, habe ich gesagt. Ihr seid alle gegangen, du am weitesten |241| fort, dann Melike nach Izmir, und Sibel, ja, sie wohnt hier, aber wie häufig bekommt man sie zu Gesicht? Sie sitzt zu Hause und malt Bilder, den lieben langen Tag hat sie einen Pinsel in der Hand. Ihr alle fort, alle Frauen sind aus meinem Leben gegangen, nur dieses Weib ist geblieben. Gott möge sie nicht bestrafen. Weißt du, was ich manchmal denke? Wie würde wohl die Welt aussehen, wenn Vermissen ein schönes Gefühl wäre?
Gül sieht ihren Vater an und ist sprachlos ob dieser Frage: Wie würde wohl die Welt aussehen, wenn Vermissen ein schönes Gefühl wäre?
– Ach, sagt der Schmied, die, die man will, sind weg, und die, die man nie wollte, macht einem das Leben zur Hölle. Komm, mach mal einen Tee, wir wollen uns wärmen an einem Tee dunkel wie Kaninchenblut. Lass mich ein wenig hier sitzen, ich mag nicht ins Kaffeehaus. Und nach Hause schon gar nicht.
Gül holt den Kessel und stellt ihn auf den Ofen.
Nach zwei Gläsern Tee fängt Timur an zu gähnen und sagt:
– Ich lege mich mal kurz hin, im Schlaf vergeht der Zorn und die Sehnsucht manchmal auch.
Er erhebt sich, und Gül sagt rasch:
– Bleib doch, im Schlafzimmer ist es kalt, eisigkalt. Leg dich einfach hier auf den Diwan, ich hol dir eine Decke.
Noch während sie es ausspricht, wird ihr klar, dass sie genau das tut, was ihren Vater ärgert: Es ist zu kalt. Zieh eine Strickjacke an. Sie weiß nicht, wie er nun reagieren wird, aber ebenso wenig weiß sie, wie er reagieren würde, wenn er Ceren und Mecnun entdeckte. Sie versucht zu atmen, doch es geht nicht. Ihr Herz rast, aber ihr Brustkorb hebt und senkt sich nicht.
Der Schmied setzt sich nicht wieder hin, sondern steht unschlüssig da.
– So kalt ist es draußen gar nicht, sagt er, doch Güls Herz |242| beruhigt sich schon wieder, weil sie nun ahnt, dass der Schmied sich hier hinlegen wird. Noch immer hört er auf Frauen, wenn auch nicht auf seine eigene.
– Ich habe …
Gül kann nicht weitersprechen, sie versucht noch einmal Luft zu holen.
– Ich habe sowieso in der Küche zu tun, hier bist du ungestört.
Sobald sie ihren Vater schnarchen hört, geht sie ins Schlafzimmer. Mecnun ist ganz blass vor Kälte, der arme Junge, so dünn wie ein Finger ist er, natürlich friert er, denkt sie, obwohl sie sich selber kaum mehr daran erinnern kann, wie es ist, schlank zu sein.
Sie legt einen Finger auf die Lippen, sieht, wie Mecnuns Kiefermuskeln unter der Haut spannen, wahrscheinlich beißt er die Zähne aufeinander, damit sie nicht klappern. Gül ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, ihn so aus dem Haus zu lassen, doch was soll sie sonst tun?
Nachdem Mecnun gegangen ist, ohne dass ein Nachbar ihn gesehen hätte, fühlt Gül sich leichter, viel leichter, fast schon dünn. Sie setzt sich mit Ceren in die Küche, und die beiden hören dem Schmied beim Schlafen zu. Es ist das Schnarchen meines Vaters, denkt Gül, nur darum klingt es für mich wie Musik und nicht wie Fuats Schnarchen. Sie steht auf, und am Fuße des Diwans stehend, betrachtet sie ihren Vater, die verbliebenen grauen Haare auf seinem Kopf, irgendwo mögen noch blonde dabei sein, die man nun nicht mehr erkennt, seine Bartstoppeln hingegen waren schon immer etwas dunkler als seine Haare, und die Falten in seinem Gesicht machen es ihm mittlerweile schwer, sich zu rasieren.
Als Gül nach Deutschland gegangen ist, sagten noch alle Schmied zu Timur oder
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