Heimstrasse 52
Sie fragen, Onkel Fuat, ist es so, dass sie uns dort nicht akzeptieren, dass sie immer auf uns herabsehen? Dass wir wie Menschen zweiter Klasse sind?
Was für ein Student ist Fuat denn da am Feiertag ins Haus geschneit?
– Fremdenfeindlichkeit, sagt Fuat, Fremdenfeindlichkeit gibt es ja überall. Bei uns, bei denen, es ist nicht überall Sonnenschein, und nur in der Wüste gibt es keine Schatten, deswegen verdurstet man dort auch. Nein, es ist nicht immer leicht für uns dort, aber mit deren Hilfe haben wir all das hier – er macht eine ausladende Handbewegung – aufgebaut. Wenn jemand bereit ist zu arbeiten, ist es ein gutes Land, dieses Deutschland.
– Onkel Fuat, verzeih, wenn ich so frage, ich habe nur ein paar Bücher gelesen, ich bin nie im Ausland gewesen, aber so, wie ich es verstehe, wollen die Deutschen doch am liebsten, dass wir so werden, wie die Helden in ihren Büchern sind. Menschen, die ihrer Umwelt kritisch gegenüberstehen, die sich aus ihrem Umfeld herausentwickeln, die neue Wege gehen, auch gegen den Willen der Gesellschaft. In ihren Büchern sind Menschen, die aus einem Kampf als andere hervorgehen. Aber so sind sie doch nicht, oder? Es kann ja nicht eine ganze Gesellschaft so sein. Das ist doch nur, was sie gerne sehen wollen. Wir hingegen beschreiben das Stadt- oder Dorfleben |246| in unserer Literatur und schimpfen auf den Staat und suchen dort den Schuldigen. Wir sind keine Individualisten, wir stellen uns nicht gegen Gesellschaft und Familie, wir stellen uns gegen Unterdrücker. Aber da hinken wir wohl noch zurück, ist es nicht so, Onkel Fuat?
Es entsteht eine kleine Pause, und Mecnun murmelt
Entschuldigung.
So viel redet er sonst nicht, er hat sich wohl ein wenig verrannt und auch zu viel Redezeit beansprucht.
– Ja, sagt Fuat, wir sind keine Individualisten, wir sind keine solchen Egoisten wie die Deutschen. Wir wissen, wann man sich schämt. Ich hatte einen Kollegen, Helmut, dem habe ich jeden Tag Kaffee mitgebracht, jeden Tag. Meine Freunde haben sich schon lustig gemacht über mich. Vergiss es, haben sie gesagt, der lernt es nie, der erzählt abends seiner Frau, was für ein Trottel du bist, nie und nimmer wird der dir auch mal einen ausgeben, dem wird es nicht peinlich, bis ans Ende seiner Tage immer nur danke zu sagen. Und ich habe ihnen gesagt, dass ich ihm so lange jeden Tag einen Kaffee ausgeben werde, bis es ihm unangenehm wird. Egoisten hin oder her, das sind ja Menschen wie wir. Nach acht Wochen, ich lüge nicht, nach acht Wochen hat Helmut mir einen Kaffee gekauft. Ich habe selber schon nicht mehr daran geglaubt. Zwei Monate hat der sich von mir einladen lassen. Jeden Montag habe ich gedacht: Aber diese Woche muss er sich doch revanchieren wollen. Alle meine Freunde haben geklatscht und gejubelt, aber glaub es oder nicht, Helmut hat gegrinst, dem war das kein bisschen peinlich. Wir werden nicht so wie die. Wenn wir nur hartnäckig genug sind, dann werden die wie wir. Wir haben nämlich mehr Reichtümer, wir sind ein reiches Volk, wenn auch keine Wirtschaftsmacht.
Mecnun sucht kurz Güls Blick, und seine Augen sagen
Entschuldigung
. Er wird noch viele Gespräche mit Fuat haben, sich aber nicht mehr so verrennen, er wird das Thema beim Fußball halten, auch wenn er sogar dort eine ganz andere |247| Sicht hat als Fuat, doch Fußball wird nicht auf diesem Eis gespielt, keiner läuft Gefahr, einzubrechen und sich zu blamieren.
Erst am nächsten Tag des Festes kommen Ceyda, Adem und Duygu. Die meiste Zeit des Sommers sind sie wieder in dem Dorf, aus dem Adems Eltern kommen, und Gül führt das Missbehagen, das sie bei Ceyda spürt, drauf zurück. Aus Deutschland in ein Dorf, wo man es mit der Hygiene nicht so genau nimmt, wo alle in einem Raum schlafen, wo es kein fließendes Wasser gibt, wo Ceyda ständig in Sorge um Duygu ist, verhindern möchte, dass ihre kleine Tochter irgendwo Keime aufsammelt, Durchfall bekommt oder gar Typhus, wo es nachts möglicherweise unmissverständliche Geräusche gibt, weil jemand einem Bedürfnis nachgeht. Das Leben auf dem Dorf ist nicht leicht, vielleicht wirkt Ceyda deswegen so angeschlagen. Sie sieht blass und müde aus, und wenn sie lächelt, bewegen sich nur ihre Mundwinkel.
Erst nach zwei Tagen findet Gül eine Gelegenheit, mit Ceyda allein zu sein. Sie sitzen in der Küche, füllen Weinblätter. Ceren ist Basketball spielen, es ist für sie eine Beschäftigung weit über die Schulmannschaft hinaus geworden. Stundenlang kann
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