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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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Antrittsbesuch kommt Mecnun häufiger, meist allein, er kommt nach Einbruch der Dunkelheit, leise, darauf bedacht, dass niemand ihn sieht, oder er kommt tagsüber unter einem Vorwand, hilft Kohlen schleppen oder repariert etwas im Haus, und Gül achtet stets darauf, dass keiner der Nachbarn Grund hat zu behaupten, er ginge ein und aus, wie es ihm beliebt, oder er hätte gar Gelegenheit, allein mit Ceren zu sein. Sie ahnt, dass sie sich in Gefahr begeben, sie ahnt es, aber was soll sie sonst tun: Liebenden im Weg stehen?
     
    Der Schnee schluckt die Geräusche. Selbst wenn Timur mit dem Moped gekommen wäre, hätte Gül ihren Vater nicht gehört. Er klopft an der Tür und ruft ihren Namen. Gül stürmt in das kleine Gästezimmer, in dem sie sich im Winter meist aufhalten, weil das Wohnzimmer zu groß ist, um es den ganzen Tag zu heizen.
    – Ins Schlafzimmer, sagt Gül, und keinen Mucks. Mein Vater ist an der Tür. Nehmt euch Decken, raunt sie Ceren und Mecnun zu, während es erneut klopft und der Schmied den Namen seiner Tochter lauter ruft.
    Gül öffnet, etwas außer Atem und mit einem Herzschlag, den sie bis in den Hals spürt, ihre Hände zittern, und sie weiß nicht, wo sie sie verstecken soll.
    – Was ist los?, fragt Timur. Hörst du mich nicht? Willst du mich draußen erfrieren lassen?
    – Ich bin wohl eingenickt am Ofen, sagt Gül, komm rein, wärm dich auf. Was bringt dich hierher um diese Zeit?
    Nachmittags und noch dazu am Wochenende kommt er selten vorbei. Gül fragt sich, wann sie ihren Vater das letzte Mal angelogen hat. Da muss sie noch ein Kind gewesen sein.
    – Ach, sagt der Schmied, und erst jetzt erkennt Gül, dass er |239| schlechte Laune hat, und ist ein wenig erleichtert. Er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu merken, dass Gül nervös ist.
    Timur legt seine Mütze ab, klopft sich den Schnee von den Hosenbeinen und der Jacke und geht ins Zimmer, in dem eben noch Ceren und Mecnun gesessen haben. Es riecht noch ein wenig nach Rauch, und Gül legt wie nebenbei eine Orangenschale auf den Ofen, doch ihr Vater scheint mehr als nur schlecht gelaunt zu sein, er schiebt sich ein Kissen in den Rücken, als wolle er das Kissen für etwas bestrafen, und atmet heftig aus. Gül ahnt nun, wem sein Zorn gilt.
    – Zerrissen habe ich sie, sagt er, zerrissen habe ich diese beschissene Strickjacke, mit meinen eigenen Händen. Was glaubt diese Frau, wer sie ist? Mit Fatma habe ich mich in fünf Jahren keine fünf Mal gestritten, mit dieser hier streite ich mich fast fünf Tage die Woche. Bis hierher bin ich gelaufen, aber mein Zorn ist nicht verraucht in diesem Schnee. Ich kann mich nicht abkühlen, und da will dieses Weib mir tatsächlich noch eine Strickjacke andrehen. Was geht es sie an, woher will sie wissen, ob ich friere oder nicht? Sie wollen dich kontrollieren, all diese Frauen wollen einen immer nur kontrollieren, zieh dies an, tu das, fahr nicht Moped, du bist zu alt, rasier dich mal wieder, wasch dich, kauf Grütze, iss weniger Fett, steh nicht so nah am Ofen, tu dies nicht, mach das nicht, erledige jenes. Kaum sind die Kinder aus dem Haus, braucht sie jemand anderen zum Herumkommandieren.
    Gül hat ihren Vater schon häufig wütend erlebt, auch wenn er mit Arzu gestritten hat, doch seit vor vier Jahren ihre Großmutter, Timurs Mutter, von ihnen gegangen ist, hat sich etwas verändert. Auch vorher schon war der Schmied stolz und stur, aber er war es gewöhnt, auf Frauen zu hören. Nachdem sein Vater früh gestorben war, hatte seine Mutter zu Hause ein strenges Regiment geführt, sie war der Grund dafür gewesen, dass er Fatma geheiratet hatte, und solange |240| Timur auf seine erste Frau gehört hatte, waren die Dinge gut gelaufen, sein Haus war gesegnet gewesen, und es hatte nicht gemangelt an Geld und Glück.
    Er hatte auf Fatma gehört und später auf Arzu, aber er hatte früher schon gesagt, dass ihn mit Fatma auch sein Massel verlassen hatte. Seit dem Tod seiner Mutter stritt er sich häufiger mit Arzu, wurde eigenwilliger und schien schon aus Trotz das Gegenteil von dem zu tun, was sie wollte.
    Bat sie ihn beim ersten Schnee, nicht mit dem Moped zu fahren, konnte man sich sicher sein, dass er sich auf die Maschine setzte, und sei es, um nur eine Runde zu drehen. Sagte sie, dass es zu spät sei, das Dach des Stalles zu reparieren, er würde im Dunkeln nichts mehr erkennen können, nahm er erst recht das Werkzeug zur Hand. Nachts stand er auf und kleckerte schlaftrunken auf den Boden

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