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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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großer Bruder oder vielleicht mal Onkel. Nun weiß kaum einer von den Jüngeren, welchen Beruf er früher ausgeübt hat, die Leute begegnen ihm zwar immer |243| noch mit Respekt, aber nennen ihn Großväterchen, obwohl er die meisten Menschen in dieser Gegend um gut einen Kopf überragt.
    Gül kommt es so vor, als habe sie ihm nur kurz den Rücken zugewendet, und schon ist ihr Vater alt geworden. Wie würde die Welt aussehen, wenn Vermissen ein schönes Gefühl wäre?
     
    Mecnun ist den ganzen Sommer über in der Stadt, da er Semesterferien hat, doch die Möglichkeiten, sich mit Ceren zu treffen, sind nun geringer. In der Öffentlichkeit wollen und können sie sich nicht gemeinsam sehen lassen, entlegene Ecken in den Obstgärten der Sommerhäuser sind auch nicht sicher, und bei den Yolcus kann Fuat unvermittelt auftauchen. So sehen sich die Verliebten letztlich weniger als im Winter. Gül übermittelt die Briefe, die die beiden sich schreiben, und jedes Mal, wenn sie einen Umschlag versteckt, erinnert sie sich daran, wie sich das kalte Papier auf ihrer nackten Haut angefühlt hat, als sie Receps Brief unter ihrem Pullover versteckt hatte.
    Um herauszufinden, wie ihr Mann auf Mecnun reagiert, sagt Gül zu İlkay:
    – Komm uns doch am Opferfest besuchen, bring deinen Bruder mit, sag, ihr hättet auf dem Weg zu deiner Tante kurz reinschauen wollen. Damit Fuat Mecnun einfach schon mal gesehen hat und nicht aus allen Wolken fällt, wenn … wenn es so weit ist.
    So sitzen Gül, Ceren, Fuat, İlkay und Mecnun am zweiten Tag des Opferfestes bei Yolcus im Besucherzimmer, trinken Tee und essen Baklava, während Fuat sich über die Arbeitsmoral in diesem Land aufregt.
    – Vor einer Woche, vor einer Woche schon war ich beim Süßwarenhändler und habe eine Platte Baklava bestellt. Natürlich, hat er gesagt, natürlich, kein Problem, am Feiertag um zehn Uhr ist alles fertig. Und die Hälfte hat er gleich im Voraus kassiert. Und was war gestern? Nicht um zehn, nicht um |244| elf, nicht um zwölf, nachmittags erst habe ich meine Platte bekommen, er hatte alles schon verkauft, als ich um kurz nach zehn dort ankam. Und nachmittags musste ich mir die Platte auch noch selber abholen. Was ist das denn für ein Dienst am Kunden? Und wie kann er es wagen, im Voraus zu kassieren, wenn er meine Baklava an jemand anderen verkauft. Es ist Feiertag, er weiß doch, dass er mehr verkaufen und gute Geschäfte machen wird, aber hier kassiert man das Geld und legt sich dann auf die faule Haut. So ein Volk sind wir. Wenn wir das A von Arbeit hören, dann schauen wir schon nach einem Ast, um uns in einem Baum zu verstecken. Ehrlose Trickbetrüger vom Süßwarenhändler bis zum Präsidenten, ein Volk von Hütchenspielern, so sind wir. Und entschuldigen kann er sich auch nicht. Fuat, sagt er, Fuat, du weißt doch, es ist Feiertag, ich tue, was ich kann. Mehr geht nicht. Ja, du Trottel, gerade weil Feiertag ist, habe ich vorbestellt und angezahlt. Wenn Ehre ein Pudding wäre, dann hätte er nicht mal Milch, dieser Süßwarenpanscher. Aber ehrlich.
    – Dort geht immer alles seinen Gang, oder?, fragt Mecnun. Da passieren derlei Dinge nicht. Deswegen sind sie eine Wirtschaftsmacht und wir nicht.
    – Genau, sagt Fuat, genau, du hast es erfasst. Du hast es erfasst, ohne je dort gewesen zu sein, es ist so einfach, aber dieser Zuckerbäcker begreift das nicht.
    Gül glaubt nicht, dass Mecnun Fuat nach dem Mund reden möchte, doch sie ist auch wenig erstaunt über seine Reaktion, und sie staunt noch mehr über die Wendung, die das Gespräch nun nimmt.
    – Einige Sachen liegen klar auf der Hand, sagt Mecnun, sie sind eine Wirtschaftsmacht, ein Staat, der soziale Sicherheiten bietet, ein Staat, in dem viel geschehen ist für die Rechte der Arbeiter gerade unter Brandt und Schmidt.
    – Hm, macht Fuat, ebenfalls überrascht über diesen Spund, der wohl kaum zwei Jahre alt gewesen sein kann, als Brandt |245| sein Amt antrat. Ist das etwa einer von diesen jungen Linken? Was macht er hier in dieser kleinen Stadt?
    – Aber hier geschieht nichts für die Rechte der arbeitenden Klasse, fährt Mecnun nun fort, hier gibt es keinen Staat, der einen auffängt, hier hilft nur die Familie, und ansonsten gilt, jeder gegen jeden.
    – Ja, genau, sagt Fuat, keine Einheit. Jeder ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, auf zwei Pfennig mehr Gewinn, weiter kann niemand schauen.
    – Manches liegt, wie gesagt, auf der Hand, aber andere Dinge verstehe ich nicht. Darf ich

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