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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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und
New-York-Yankees-Mützen, und alle drei mit je einem Fuß auf dem Pedal, um
sofort losflitzen zu können, falls ich mich als Sittenstrolch, flüchtiger
Verbrecher oder sonst wie gefährlich herausstellen sollte. Flecki war
verschwunden.
    »Seid ihr schon lang da?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte eins der Mädchen, und: »Sie haben geschnarcht«, das
zweite. Der Junge schwieg, schaute aber jetzt ein bisschen weniger ängstlich
drein. Vielleicht weil ich seine Sprache beherrschte.
    »Habt ihr eine Katze gesehen?«
    Der Junge antwortete: »So eine … äh … irgendwie …«
    »Weiße?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    »Ja«, sagte der Junge, »mit so … äh …«
    »Flecken?«
    »Nein«, sagte der Junge.
    »Wenn du sie nicht gesehen hast«, fragte ich, »woher weißt du dann,
dass sie weiß war?«
    »Weiß ich ja nicht«, sagte er jetzt mutiger, weil er es geschafft
hatte, mich reinzulegen, »haben Sie gesagt.«
    Schon wieder Humor. Schon wieder auf meine Kosten. Irgendwas stimmte
nicht mit diesem Tag. Lag ich vielleicht im Koma, rannten Ärzte um mich herum,
die um mein Leben rangen, und mein Gehirn spendierte mir zur Entlastung einen
lustigen Landausflug mit Katze, Kindern und Hummeln?
    Die Kinder fuhren los – ich war nicht mehr interessant, weder eine
Leiche noch ein Verbrecher, nur ein schnarchender Mann auf einem Holzstoß.
    »Flecki«, rief ich, als ich die Kinder außer Hörweite glaubte, aber
sie blieb verschwunden. Ich suchte noch die Wiese ab, dann den Waldrand, rief
immer wieder, dann lehnte ich mich noch eine Zeit lang an den Holzstoß und
merkte, dass ich traurig wurde. Ich hatte eine sprechende Katze gefunden und
schon wieder verloren.
    Und mir wurde klar, dass Flecki nicht der richtige Name für sie war.
Ich hätte sie Isso nennen sollen. Oder Groucho. Ich ging zurück zu dem Haus,
das ich gemietet hatte, um endlich eine dringende Arbeit in Angriff zu nehmen,
einen Essay, den ich schon vor einiger Zeit versprochen, aber so lange vor mir
hergeschoben hatte, bis der Ablieferungstermin immer greller im Kalender
blinkte. Über die Grenze zwischen Wahrnehmung und Einbildung, den Punkt, an dem
Realität zu Fiktion wird, und die Frage, wieso wir uns mit solchen Fragen
überhaupt abquälen, da doch alle Wirklichkeit erst durch unsere Wahrnehmung
transponiert als Repräsentation, als Erzählung, als Quasi-Fiktion bei uns
ankommt. Eine Art Wiedersehen mit der Welt als Wille und
Vorstellung . Das würde keinen interessieren. Es interessierte ja nicht
mal mich. Aber es gab Honorar, darauf konnte ich nicht verzichten, und ich hatte
zugesagt, also musste ich auch liefern.
    Die Sonne stand tiefer, das Haus lag jetzt im Schatten, aber es war
noch immer so heiß wie zu Beginn meines Spaziergangs und schien auch nicht mehr
kühler werden zu wollen . Ich schwitzte von dem kurzen
Weg und merkte, dass meine Haut im Gesicht spannte und juckte – ich hatte mir
beim Schlafen auf dem Holzstoß einen Sonnenbrand geholt.
    Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und herumdrehte, hörte ich
ein gutturales Geräusch, es klang nach Taube, war aber Katze.
    »Isso?«, rief ich und hörte sie antworten: »Hier. Guck nach oben.«
    Sie saß auf dem kleinen Vordach und schaute zu mir herunter.
»Schließ auf«, sagte sie, »mach schon. Ich hab Durst.«
     
    ˜
     
    Sie sprang mir zuerst auf die Schulter – sie fühlte sich
erstaunlich schwer an – dann auf den Boden und ging gleich, als ich die Tür geöffnet
hatte, zur Küche. Kannte sie sich aus, oder waren hier alle Küchen rechts vom
Eingang? Vielleicht folgte sie auch dem Geruch, Katzen haben feine Nasen. Als
ich bei ihr ankam, war sie schon auf die Theke gesprungen und putzte sich die
linke Flanke. Nur die linke.
    »Wasser?«
    »Ja bitte.«
    Ich brauchte eine Weile, um ein Schälchen zu finden, sie putzte sich
währenddessen weiter, es klang hübsch. Wie eine kleine Bürste, mit der jemand
einen kleinen Mantel traktiert.
    Als ich das Wasser vor sie hingestellt hatte und sie zu trinken
begann, erlebte ich so etwas wie einen Flashback: Mit dem Schnurren und der
einen oder anderen Musik ist dieses Geräusch eines der schönsten, an die ich
mich erinnere. Es klang vertraut und machte mich traurig.
    »Du kannst mir von ihr erzählen«, sagte Isso, ohne ihr Trinken zu
unterbrechen.
    »Ein andermal«, sagte ich und suchte nach einer brauchbaren
Übersprungshandlung, mit der ich meinen schwindelerregenden Anfall von
Nostalgie verbergen konnte. Mir fiel nichts ein, außer einem

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