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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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auf den Vorwurf näher einzugehen,
ohne zu fragen, ob er eventuell berechtigt sei, überhäuften sie mich mit
Solidaritätsbekundungen und Durchhalteparolen – sie gingen ganz offenbar davon
aus, dass ich eben ein Schwindler mit Pech sei. Ich wurde den Verdacht nicht
los, dass sie mir die Geschichte mit den herausgenommenen Fußnoten und
Kursivstellen nicht abnahmen. Wenn schon sie so reagierten, war es nicht
schwierig, sich vorzustellen, was Fremde über mich zu wissen glaubten. Ich
schämte mich paradoxerweise für eine Tat, die ich nicht begangen hatte. Ich war
für meine Freunde auf einmal ein Schlaumeier, der die Abkürzung nimmt und seine
Arbeit schneller fertig hat, weil er ganze Seiten einfach einmontiert. Sie
nahmen mir nur zum Schein die Entlastungsgeschichte ab, weil sie mich nicht
kränken wollten. Ich ging nach diesem Abend nicht mehr hin.
    Ich brachte ihre Anrufe mit Ausreden hinter mich, ignorierte die E -Mails
und ließ irgendwann den Anrufbeantworter an, um nur noch dranzugehen, falls der
Verleger anrufen würde. Was er nicht tat.
    Dieser kleine Kollegenkreis war meine Familie. Die einzige, die ich
noch hatte. Ich wusste, dass ich mit meinem übertriebenen Ehrgefühl das alles
kaputt machte, aber ich wusste auch, dass ich, zumindest in diesem Moment,
nicht anders konnte. Auf einmal stellte ich mir vor, sie gönnten mir den
Reinfall, in ihrer Bewunderung für meine vermeintliche Chuzpe stecke ein Gramm
Hohn und in ihrem Mitleid für mein Pech mehr als ein Gramm Häme.
     
    ˜
     
    Ich konnte nicht lesen. Konnte mich unmöglich
konzentrieren. Der Computer war tabu, und ich wollte nicht schon wieder
spazieren gehen. Auch fernsehen schien mir keine Option, und Isso hatte sich
verzogen. Schade. Ein erhellendes Gespräch über Katzenkategorien und Menschenkategorien
wäre jetzt vielleicht eine Bereicherung gewesen. Zumindest eine Ablenkung.
    Ich durchstöberte den kleinen Stapel CD s neben der
Kompaktanlage und fand drei Klavierkonzerte und die siebte Symphonie von
Beethoven, das Italienische Konzert von Bach und Gitarrenmusik von Villa-Lobos
unter ansonsten uninteressanten Gospels, Opern und Musicals. Ich legte das
fünfte Klavierkonzert auf und stellte die Anlage so laut ich es wagte. Direkte
Nachbarn hatte ich keine. Ich ließ die Terrassentür offen.
    Frau Seeligs Trostspender im Verein mit Beethoven schafften es
tatsächlich nach einer Weile, das Rasen in meiner Brust oder in meinem Kopf,
oder wo auch immer diese Unruhe ihren Sitz haben mochte, zu bremsen.
     
    ˜
     
    Ich bin ein eher zurückhaltender Trinker. Das war nicht
immer so, aber irgendwann fand ich, ein Rausch sei keine Leistung, und
entdeckte, dass das Betrunkensein sich nicht wirklich gut anfühlte. In der
Flasche war noch eine knappe Hälfte Trost, und ich beschloss, die zusammen mit
Heitor Villa-Lobos in der Badewanne zu reduzieren.
    Es war schade, dass ich die Wanne nicht auch auf die Terrasse
stellen konnte. Das hätte mir gefallen. Im Mondlicht in einer warmen Nacht mit
Gitarre und Brunello auf der Stelle zu plätschern und sich dabei nach
irgendwohin zu träumen. Aber ich war ja schon irgendwo. Kein Bedarf, sich noch
woandershin zu wünschen. Es würde reichen, wenn ich meine düstere Stimmung in
den Griff bekäme. Ich war doch kein Knabe mehr, der sich gleich seinen
Selbstmord ausmalt, wenn er mal zu Unrecht bestraft wurde.
    Ich hatte die CD eingelegt, aber die Anlage nun doch leiser
gedreht. Das tat der Musik nicht wirklich gut – so klang sie nur noch wie eine
akustische Tapete, nicht mehr wie ein Ereignis, aber ich wusste nicht, wie weit
das in der Stille der Nacht zu hören gewesen wäre, wenn ich es bei der
vorherigen Konzertlautstärke belassen hätte.
    Das Wasser war ein bisschen zu heiß, ich musste mich vorsichtig und
langsam immer tiefer sinken lassen, bis es mich ganz umschloss und ich mir dazu
vorstellte, mich umgäbe nicht das Badezimmer, sondern der Garten, und ich
schaute nicht an die grün gestrichene Decke, sondern in den Sternenhimmel.
    Ein Schluck Trost. Nichts denken. Nur die Wärme spüren.
    Ich konnte eigentlich draußen schlafen. Mich würde schon kein Marder
anknabbern oder Serienkiller meucheln. Aber Frau Seelig mochte etwas dagegen
haben, wenn ich die gute Matratze auf die Terrasse zerrte. Und wenn ich es
genau bedachte, ich hatte auch was dagegen: zu anstrengend.
     
    ˜
     
    Als die Musik verklungen war, hörte ich ein Plätschern.
Ich setzte mich auf und sah Isso, die breitbeinig auf der Klobrille

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