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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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freundliches Gift? Irgendein Morphin, das mich
wegdrückte in eine heile, nette Welt, die unmöglich wahr sein konnte.
    Falls dies nicht alles nur Einbildung war, dann würden hier wie
anderswo Frauen geschlagen, Kinder missbraucht und Tiere gequält – mein
Entzücken rührte nur daher, dass ich mich nicht auskannte, dass ich keine
Ahnung hatte von der Wirklichkeit, deren Fassade mir so hübsch erschien, dass
ich dahinter nichts Schlechtes vermuten wollte.
     
    ˜
     
    Das Städtchen war schon voller Menschen, die sich in
kleinen Grüppchen herumstehend oder an den Schaufenstern entlangschlendernd die
Wartezeit verkürzten. Ein kleines Mädchen hatte eine Decke auf der Straße ausgebreitet,
darauf Spielzeug, ein paar Bücher, eine Videokassette und ein rosa Handy, und
wartete gelassen und gut gelaunt auf Käufer. Ein größeres Mädchen stand daneben
und spielte Saxofon. Sie spielte schauerlich schlecht, hatte wohl erst ein paar
Stunden Unterricht hinter sich, aber sie lächelte in sich hinein und hatte
voller Optimismus eine Mütze vor sich auf der Straße liegen. In der allerdings
noch kein Cent glitzerte.
    Ich schlenderte wie die anderen von Schaufenster zu Schaufenster,
bis von irgendwoher Böllerschüsse dröhnten. Das wird Isso nicht gefallen,
dachte ich. Minnie war in der Neujahrsnacht immer unters Bett verschwunden und
nicht zu trösten gewesen, bis der Lärm ein Ende gehabt hatte.
    Aus einiger Entfernung erklang Musik. Ein langsamer Marsch. Ich
wartete einfach, wie die meisten hier – nur wenige Leute gingen der Musik
entgegen. Nach einigen Minuten bog mit leisem Klingeln, das wie ein
fernöstlicher Schimmer über der getragenen europäischen Melodie lag, ein Trupp
Menschen in meine Sichtachse ein. Vier Männer trugen einen Baldachin, darunter
ging ein Priester im Ornat und hielt eine kleine Statue, davor ein Ministrant
mit Weihrauch, ein zweiter mit Glöckchen und dahinter eine gemessenen Schrittes
marschierende Kapelle, alle in Uniformen, die nichts Militärisches hatten, eher
an Trachten erinnerten, dahinter Männer und Frauen und Kinder in echter Tracht,
eine Gruppe Reiter und eine größere Gruppe sonntäglich gekleideter Menschen.
    Je näher mir der ganze pittoreske Pulk entgegenschritt, desto stärker
spürte ich in der Zwerchfellgegend eine Art Rührung oder Ergriffenheit – solch
unschuldig-ernsten Ausdruck katholischen Brimboriums hätte ich nicht hier
erwartet. In Spanien vielleicht oder Italien, von mir aus auch in Köln, aber
nicht hier in der hintersten Ecke des Landes, wo Katzen sprechen können und
Schüler noch vor der Beherrschung ihres Instruments die Straßenmusikerlaufbahn
einschlagen.
    Die Kapelle spielte jetzt ein etwas weniger trauriges, eher
rumsiges, marschierfreundliches Stück, und ich sah die Saxofonistin, die in ein
paar Metern Entfernung an mir vorüberging, ihr Instrument jetzt im Koffer, und
im Rhythmus der Musik an ihrem Eis leckte. Sie marschierte nicht im Takt, aber
sie konsumierte ihr Eis im Takt.
    Als ich den Blick zurück auf die Prozession lenkte, sah ich, dass
Carmen Seelig mitspielte. Klarinette. Sie entdeckte mich in der Reihe der
Schaulustigen, konnte aber nicht winken, weil sie beide Hände zum Spielen
brauchte, konnte auch nicht lächeln, weil das nicht zusammen mit Blasen ging,
stattdessen drehte sie kurz wie ein alter New-Orleans-Jazzmusiker ihre Klarinette
in meine Richtung und spielte ein paar ihrer Töne nur für mich. Den
Schornsteinfeger entdeckte ich nicht. Er war sicher schon vorbei.
    Die Menschen schlossen sich dem Zug an, ich nicht, mir waren das zu
viele Leute auf einem Haufen. In Berlin hatte ich das jeden Tag, zwar ohne
Feierlichkeit und Kostüme, dort störte es mich nicht, es fiel mir nicht mal
auf, hier wollte ich Abstand.
     
    ˜
     
    Es war noch immer heiß. Ich holte mir ein Handtuch aus dem
Haus und ging zum See genannten Teich. Unterwegs traf ich niemanden. Klar, die
waren alle bei ihrem Fest. Früher hätte ich eine solche Szenerie wie diesen Umzug
entweder lächerlich gefunden oder gar für das Abbild geistiger Ödnis, den Inbegriff
von Provinzialität und Spießigkeit gehalten, und jetzt war ich erstaunt über
mich selbst. Ergriffenheit bei Blasmusik – das war neu. Und eventuell
bedenklich.
    Der See war diesmal wärmer. Ich hatte ihn wieder für mich allein.
Vielleicht waren die Seeligs so klug, niemandem davon zu erzählen, allenfalls
den Mietern ihres Hauses, die nach ein paar Tagen wieder verschwanden und
mangels Anschluss ihr

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