Heinermaedsche
Menschenmenge, die dicht beieinanderstanden, so als wollten sie sich gegenseitig etwas Halt in dieser vermeintlich schweren Stunde geben. Insgeheim freuten sie sich alle über ihre neu gewonnene Freiheit, aber dabei zu sein, wenn der Ehemann einer engen Freundin in die Erde abgesenkt wurde, war dann doch etwas zu viel für die Damen.
Marianne war in Tränen aufgelöst. Immerzu tupfte sie mit ihrem bestickten Taschentuch an ihren Augen herum. Die Arme sah aus, als hätte sie zu tief in den Schminkkasten gegriffen. Ganz kleine Augen hatte sie, verquollen und von einem hässlichen Rotton umrandet. Von Lidschatten fehlte jedoch jede Spur.
Der Pfarrer trat leise an die Gruppe heran, geradezu ehrfurchtsvoll, beinahe schwebte er an das offene Grab. Er schlug seine Bibel auf.
Er schwieg. Lange sagte er kein Wort. Die Trauergäste schauten sich diskret, aber betreten an. Es schien, als ob der Pfarrer nicht mehr atmen würde.
Selbst bei genauester Betrachtung war nicht auszumachen, ob sich der Brustkorb auf und ab senkte.
Er hielt so lange den Blick auf die Bibel gesenkt, dass Eva am liebsten zu ihm hingegangen wäre. Das traute sie sich allerdings schlicht nicht. Stattdessen schubste sie Ursula an, die direkt neben ihr stand. »Was macht der denn da?«, flüsterte Eva.
»Woher soll ich das wissen, vielleicht sucht er den direkten Draht nach oben? Oder nach unten.« Sie richtete ihren Zeigefinger diskret auf den Boden.
»Ist der etwa eigeschlafen?«, fragte nun auch Gerlinde.
»Man müsste ihn erschrecken«, erwiderte Ursula.
»Nein, nein, um Gottes willen, bei unserem Glück erschrickt er so sehr, dass er vorn überfällt und tot auf dem Sarg meines Hubertus liegt. Das würde ihn doch sicherlich auch post mortem arg irritieren.«
Die Freundinnen schauten sich an und prusteten los. Lauthals lachten sie am offenen Grab.
Da hob sich endlich der Kopf des Pfarrers und die Damen waren augenblicklich still. Eine leise, kraftlose Stimme fing an zu sprechen: »Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um unseren lieben Ehemann, Vater … «
»Vater? Wir haben keine Kinder!«, entrüstete sich Marianne.
»Darf ich fortfahren?«
Verdutzt nickte Marianne. »Der muss seine Rede vertauscht haben. Von was zum Teufel spricht der denn?«
»… um unseren lieben Ehemann, Vater und Freund auf dem Weg ins Himmelreich zu begleiten. Im Herzen war er ein visionärer Zeitgeist. Hubertus war ein außergewöhnlicher Mann. Er wurde im kalten Winter 1936 in Königsberg geboren. Als Flüchtlingsjunge kam er nach Darmstadt. Dank seiner Hartnäckigkeit kämpfte er sich ganz allein nach oben. Er fing als Botenjunge bei einem Tageblatt an. Sein Studium finanzierte er sich, indem er in einem Schlachthof Gedärme entsorgte. Er schloss sein Jurastudium mit summa cum laude ab. Seine schwere Kindheit und der frühe Verlust seiner Eltern, insbesondere der Mutter, forderten später ihren Tribut. Er war ein mutiger Unternehmer, der sich für seine Mitmenschen engagiert hat. Selten verlor er seinen Humor. Das, wie mir seine Kinder mitteilten … «
»Was? Kinder? Wir hatten keine Kinder! Wieso behaupten Sie das ständig?«, quietschte Marianne. Sie hielt sich ein monogrammbesticktes Taschentuch vor den Mund. Sie sah aus, als wollte sie am liebsten in den Sarg klettern und Hubertus zur Rede stellen.
»Ah, ja«, der alte Pfarrer rieb sich sein kantiges Kinn. »Eine junge Dame mit zwei entzückenden kleinen Kindern hat mich vor ein paar Tagen aufgesucht, voller Trauer um den Verstorbenen, den Vater ihrer Kinder. Eine wahrlich reizende Person.«
Marianne glaubte dem alten Mann kein Wort. »Was heißt denn hier ›eine reizende Person‹? Ich bin seine Frau. Es muss sich um einen Irrtum handeln.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass es in den 70 Jahren meiner Tätigkeit als Pfarrer niemals eine Verwechslung gegeben hat. Die reizende junge Frau weinte bitterlich um Ihren Hubertus – oder wie sie ihn liebevoll nannte: um Schnurzelchen.«
»Schnurzelchen?!« Marianne traute ihren Ohren nicht. »Was soll das alles bedeuten?« Sie japste nach Luft.
»Kommen wir nun zurück zu meiner eigentlichen Aufgabe. Wo war ich stehen geblieben?« Der Pfarrer schien durch die Unterbrechung völlig verwirrt. So ließ er sich zu dem leicht makabren Ende verleiten: »Mal ehrlich, keiner weiß, wie lange er leben wird, ehe seine letzte Stunde schlägt.« Der Geistliche senkte wieder den Kopf und fiel zurück in seine anfängliche Starre. Die Damen sahen sich ratlos
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