Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
zu Besuch. Wir gehen heute Abend aus.«
»Und was macht Ihre Mutter jetzt, wo Sie hier sind? Ist sie ganz allein?« Sie drehte das Gas ab.
»Nein, sie ist bei meiner Frau und meinen Kindern. Und ich bleibe nicht lange.«
»Ja, ich hatte auch einmal eine Familie.« Signora Bianchi war in ihr Wohnzimmer vorausgegangen, in dem auf einem riesigen und sehr alten Fernsehgerät viele altmodische Fotos aufgereiht waren. »Zwei Töchter und einen Mann natürlich …«
Bevor sie dazu kam, ihre Familiengeschichte auszubreiten, was seine Zeit brauchte wie bei allen einsamen alten Menschen, fiel ihr Laurenti ins Wort.
»Man sagt, daß nebenan zwei Personen wohnten. Geschwister. Wir kennen nur Leonid Chartow. Wer ist seine Schwester? Ich nehme an, es ist seine Schwester.«
»Sie ist ein nettes Mädchen und schon zwei Tage nicht nach Hause gekommen. Das gab es bisher nicht.«
»Wie heißt sie? Erzählen Sie.«
»Olga. Nach der schrecklichen Sache hoffe ich, daß ihr nichts passiert ist. Sie war auch alleine im Leben, bis ihr Bruder kam. Wie ich. Aber sie kam jeden Tag nach Hause.«
»Signora, können Sie sie beschreiben?«
Es dauerte lange, bis Laurenti eine Vorstellung von Olga hatte. Die kleine Signora Bianchi hatte ihn aufgefordert, sich auf einen durchgesessenen Sessel zu setzen, sie selbst nahm auf dem ebenso alten Sofa Platz. Aus einer verstaubten Flasche hatte sie ihm einen Grappa in ein verstaubtes Glas gegossen. Dann erzählte sie, daß Olga öfters einen Teller Spaghetti bei ihr bekommen hatte und manchmal für die alte Dame einkaufte, insbesondere die schweren Sachen, die man im Haushalt braucht. Signora Bianchi war aufgestanden und ging zum Fernseher, von dem sie aus einer Reihe von Fotografien, die dort nebeneinander aufgereiht waren, eine herunternahm.
»Das ist Olga. Gott schütze sie.« Sie reichte den einfachen Wechselrahmen über den Tisch.
Die Frau auf dem Foto erkannte Laurenti sofort.
»Kann ich es haben?« Und nachdem er das enttäuschte Gesicht der alten Frau gesehen hatte, versprach er, es bald zurückzugeben. Er wollte sich erheben, aber Signora Bianchi sagte plötzlich mit entschiedener Stimme: »Warten Sie!« Sie ging hinaus, und Laurenti hörte, wie die dritte Tür geöffnet wurde, die wahrscheinlich in ihr Schlafzimmer führte. Schnell griff er das Glas und goß den Grappa in die Flasche zurück.
Sie kam mit einem braunen Karton zurück, den sie in beiden Händen trug.
»Olga sagte mir, ich solle dies der Polizei geben, wenn ihr etwas zustoßen würde. An Ihrem Gesicht habe ich gesehen, daß es jetzt an der Zeit ist. Arme Olga.« Sie schaute ihn lange an, bevor sie es ihm reichte.
»Und was ist das?« fragte Laurenti.
»Ich weiß es nicht. Olga hat nur gesagt, daß ich gut darauf aufpassen soll.«
»Haben Sie eine Plastiktüte?«
Laurenti folgte ihr in die Küche. Aus einer der Schubladen zog sie die bedruckte und sorgsam zusammengefaltete Tragetasche eines Supermarktes. Laurenti steckte das Päckchen hinein.
»Wollen Sie es denn gar nicht anschauen?« fragte die alte Frau enttäuscht.
»Wir müssen es zuerst untersuchen. Aber ich werde Ihnen sagen, was drin war. Sobald wir es wissen.« Er gab ihr die Hand. »Vielen Dank, Signora, ich muß jetzt leider gehen. Meine Mutter wartet. Aber ich glaube, Sie haben uns sehr geholfen.«
Er fuhr mit dem Motorroller zurück in die Via del Coroneo und achtete nicht auf die roten Ampeln. Er war aufgeregt und in Eile. Seinen Dienstausweis hatte er auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen, neben dem staubigen Glas und der Grappaflasche.
Nach einundzwanzig Uhr traf endlich auch Proteo Laurenti zum Essen ein. Laura war mit Livia, Marco und ihrer Schwiegermutter ins »Tre Merli« gefahren. Es war das einzige Restaurant Triests, das direkt am Meer lag. Die anderen waren durch die Uferstraßen vom Wasser abgeschnitten. Das »Tre Merli« war eine Goldgrube mit Aussicht auf romantische Sonnenuntergänge hinter dem Castello Miramare. Ob sie »richtig« essen wollten oder nur eine Pizza, hatte der Wirt bei der Reservierung gefragt, und als Laura sich danach erkundigte, was dies ausmache, gesagt: »Wir schicken auch niemand weg, wenn er nur eine Pizza ißt.« Sie ahnte aber, daß dies über den Tisch entschied, und natürlich wollten sie ganz vorne am Wasser sitzen.
Proteo Laurenti hatte telefonisch Bescheid gegeben, daß er nachkommen müßte. Er hatte darum gebeten, daß seine Tochter Livia an diesem Abend anwesend war. Er bräuchte sie dringend, sie
Weitere Kostenlose Bücher