Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
Öffentlichkeit breitgetreten. Außerdem hatte sie auf ihn einen durchaus angenehmen Eindruck gemacht, den er sich bewahren wollte. Da offenbar jede ihrer Beziehungen harmonisch begann und erst eskalierte, wenn es zu Unstimmigkeiten kam.
In diese Überlegungen hinein läutete Müllers Handy so leise, dass er es beinahe überhört hätte, weil es unter Baron Bibers Katzendecke lag.
»Kommen Sie sofort her«, flüsterte eine weibliche Stimme, die Heinrich erst nach genauerem Hinhören als diejenige seiner Auftraggeberin identifizierte.
»Ich kann nicht laut reden. Es ist wichtig«, fügte Delia Zimmermann hinzu.
»Wo sind Sie denn?«, fragte der Detektiv.
»Ich bin in der Lorraine, unterwegs an die Aare. Kennen Sie die ehemalige Brauerei Gassner?«
»Ja.«
«Ich treffe Sie dort.«
»Wann?«
»So schnell wie möglich.«
Dann brach die Verbindung ab.
Das war nun eine sehr vage Verabredung, da die Brauerei heute Künstlerateliers und Proberäume von Theatertruppen und Bands enthielt und aus mehreren Gebäuden bestand. Dort konnte er lange suchen, wenn ihn Delia nicht am Eingang erwartete. Jedenfalls informierte Heinrich Müller sofort Bernhard Spring und bat Nicole Himmel, ihn zu begleiten.
Der Tag hatte heiß begonnen, doch nun zogen bedrohliche Gewitterwolken auf. Heinrich und Nicole begaben sich auf ihren Fahrrädern in die Lorraine, stellten sie unterhalb des Bahnviadukts ab, auf dem die Züge wenige Meter neben den Wohnzimmern mehrerer Häuser vorbeirasten. Von dort senkte sich ein erst gepflasterter, danach asphaltierter Gehweg steil hinunter zum Lorrainebad, an der Liegewiese vorbei zum Uferweg entlang der Aare und führte in Richtung Altenberg zur Brauerei. Der Himmel hatte sich bereits verdunkelt, und als sich das Detektivpaar auf halbem Weg des Abhangs befand, fielen die ersten schweren Tropfen, ein Blitz schlug weiter flussabwärts ein, und der Donner krachte beinahe im selben Augenblick durch die Bäume. Nicole und Heinrich blieb keine andere Wahl, als im Lorrainebad Schutz vor den Hagelkörnern zu suchen, die jetzt schmerzhaft auf ihre Köpfe und die nackte Haut prasselten.
Das Bad bestand aus einem lang gezogenen Schwimmbecken, das von Quellwasser gespeist wurde, obwohl es direkt neben der Aare lag und auch in diese entwässerte. Deshalb war es stets das kälteste aller Bäder. Gegen den Fluss schützte zusätzlich eine Holzwand die Schwimmenden vor der Außenwelt, dort, wo sie nur ein schmaler Pfad vom Wasser der Aare trennte; mit Graffiti und Politparolen vollständig zugemalt. Das Lorrainebad galt seit Jahrzehnten als Sommerrefugium der Berner Politszene, vor allem der Linksautonomen, die allerdings mit dem Bad gealtert waren.
Da alle Berner Bäder ohne Eintrittsgeld auskamen, diente die Wand auch nicht dem Aussperren von nicht zahlenden Gästen, sondern erfüllte höchstens die Funktion, den Badenden einen gewissen intimeren Bereich zu bieten, den diese gleich wieder aufhoben, indem sie der Aare entlang flussaufwärts flanierten, um sich nach einigen Hundert Metern vom reißenden Wasser zurück in die Lorraine treiben zu lassen. Alle paar Meter fand man eine Treppe mit einem roten Handlauf zum Ausstieg aus dem Fluss. Man war gut beraten, den letzten nach der Badeanstalt nicht zu verpassen, da wenige hundert Meter weiter das Stauwehr Felsenau die Bewegung des Wassers zu einem trügerischen Stillstand brachte, nur um es unter entsetzlichem Getöse über die Staustufe zur Erzeugung von Elektrizität zu missbrauchen.
Schutz vor dem prasselnden Regen gab es nur wenig. Heinrich und Nicole hatten sich in eine Garderobe geflüchtet, die von einem grünen, gummiartigen Vorhang vor Blicken geschützt war und in der sie erst, nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, feststellten, dass sie sich in einer Damengarderobe befanden, was Heinrich Müller nun zum Verhängnis wurde, denn der Zorn der drei Anwesenden, die trockene Kleider anziehen wollten, richtete sich gegen den Detektiv. Er hätte den Anblick welker Brüste ja klaglos ertragen, weil die Frauen sich auch innerhalb der Badeanstalt ohne Oberkörperbekleidung bewegten. Offensichtlich galten jedoch für die Umkleidekabine andere Regeln. Müller wurde beschimpft und unter Anwendung von Gewalt, wobei es für ihn zum unangenehmen Kontakt mit weiblichen Körpern kam, aus der trockenen Holzhütte hinaus in den Regen manövriert. Die Männerkabine befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des großen Teichs und war über eine
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