Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
Brücke erreichbar. Aber Heinrich konnte genauso gut hier nass werden. Er hob deshalb die Gummimatte an, scheuchte die Weiberwelt auf und sagte zu Nicole: »Ich bin dann mal weg!«
Nicole trabte ihm unter Protestgeschrei hinterher.
Nass ist kein Begriff dafür, in welchem Zustand falsch verstandener Feminismus die beiden Detektive in der Brauerei R. Gassner, gebaut 1891, ankommen ließ. Sie hätten das Industriedenkmal aus hellgelben Backsteinen von seiner schlichten Ästhetik her genießen können, wenn sie nicht zum Gespött von Bernhard Spring und Pascale Meyer geworden wären, die durch und durch trocken in ihrem Polizeiauto saßen, mit dem sie vorgefahren waren.
Delia Zimmermann hatte auf keinen von ihnen gewartet.
Wie zum Hohn ließ auch dieses Gewitter nach, sobald sie unter dem Dach standen.
»Nass wie ein Neugeborenes«, höhnte Pascale.
»Der Beginn allen Elends«, entgegnete Nicole.
»Eine erfolgreiche Geburt erhöht das Sterberisiko auf 100 Prozent. Ein schlechtes Geschäft für Lebensversicherungen«, konterte Müller und wrang sein schwarzes T-Shirt aus, auf dem über der Schweiz, geformt aus Blutstropfen, stand: ›Mordstage 2007‹.
»Wird bereits bei der Zeugung der Samen des Todes gepflanzt?«, fragte Spring. »Ist der Tod das eigentliche Ziel des Lebens, die höchste Empfindung, der letzte Orgasmus?«
»Wollen wir nicht lieber deine Freundin suchen?«, fragte Nicole.
»Delia Zimmermann ist nicht meine Freundin!«, erklärte Heinrich resolut.
»Aber sie hat dich angerufen«, argumentierte der Störfahnder.
»Zwei und zwei.« Pascale Meyer nahm das Heft in die Hand. »Ihr rechts, wir links. Hier habt ihr eine Schiedsrichterpfeife. Sobald ihr Frau Zimmermann findet: drei kurze Pfiffe.«
Die Suche dauerte länger als erhofft. Eine schmale Seilbahn zum Transport schwerer Güter bildete den Kern des ehemaligen Brauereigebäudes. Von ihr aus konnte man in alle Stockwerke gelangen. Bei dem Unwetter waren keine Ateliers besetzt und viele Türen blieben geschlossen. Wenn mal eine offen stand, führte sie meist in ungemütliche Abstellräume. In einem davon türmte sich besonders viel Schutt.
»Dieser ganze Müll«, sagte Nicole, »schlimmer als nach einem Massenpicknick auf dem Bundesplatz oder einem Botellón im Eichholz. So was regt mich auf.«
»Versteh ich nicht«, murmelte Heinrich. »Gerade dir als Anthropologin müsste Abfall wie ein Geschenk des Himmels vorkommen. Der ›Zuvielisiationsmüll‹ von gestern ist doch die Grundlage unserer heutigen Existenz. Organisches Material ergibt je nach Verdichtung Torf, Kohle, Erdöl oder Diamanten. Auf dem Schutt von Generationen sind die ersten Städte entstanden. Und dem Müll verdanken wir Berufe wie Lumpensammler, Entsorgungsspezialisten, Fettsieder, Recyclingingenieure, Müllmänner und – in ihrer veredelten Form – Archäologen. Was wüssten wir über untergegangene Gesellschaften, wenn wir nicht in ihren Gräbern und in ihrem Abfall wühlen könnten?«
Er sah zu, wie Nicole genau das tat.
»Und was macht die Spurensicherung anderes, als zu untersuchen, was an einem Tatort zurückgeblieben ist?«
Besorgt betrachtete er weiter Nicoles Aktivitäten.
»Hast du was gefunden?«, fragte er zögernd.
»Noch nicht. Hilf mir lieber, anstatt Vorträge zu halten. Ich schwitze schon, nass von innen und außen.«
Ihm selber fiel ein Tropfen vom Haar auf die Stirn.
Er bückte sich und schob ein paar aufgerissene Ordner zur Seite, suchte deren Inhalt.
Ein zweiter Tropfen, diesmal von oben.
Als Heinrich Müller sich aufrichtete, spürte er einen dritten Tropfen auf seiner Hand.
Er drehte sich zum Licht, das von der Tür her in den Raum fiel, und sah, dass es eine rote Flüssigkeit war.
Gleichzeitig hörte er drei schrille Pfiffe aus der Schiedsrichterpfeife, die in Nicoles Mund steckte.
Alle vier begaben sich ins obere Stockwerk. Der Störfahnder stieß die nur angelehnte Tür auf. Vor sich sahen sie unter dem Dach einige erstaunlich sauber geputzte Holzplanken, wohl den ehemaligen Mälzboden.
Mittendrin lag ein Mensch.
In einer Reihe hintereinander, möglichst denselben Fußabdrücken folgend, damit keine Spuren verwischt würden, traten sie bis zur Person vor.
Natürlich hatten sie niemand anderen erwartet als Delia Zimmermann. Jedoch hatten sie nicht erwartet, dass bereits so viel Blut aus ihr rausgesickert war. Sie sahen die Mordwaffe, eine Schlinge aus rauem Draht, die ihr jemand von hinten um den Hals gelegt und zugezogen
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